Nahost

Wie "tickt" Israel nach dem letzten Gaza-Krieg?

Einschussloch in einem Fenster einer Jerusalemer Synagoge (18.11.2014).
Der Angriff auf eine Synagoge in Jerusalem kommt für Israels Premier Benjamin Netanjahu einer Kriegserklärung gleich. © picture alliance / dpa / Jim Hollander
Von Evelyn Bartolmai · 21.11.2014
Erneut eskaliert die Gewalt in Israel - und keine Spur von Einheit unter den Betroffenen. Die andauernde Krise schlägt sich auch auf die israelische Gesellschaft nieder. Sie ist gespalten bei der Beantwortung der Frage: Was ist der Ausweg aus der Gewaltspirale?
"Wenn sie auf uns schießen und die Frage steht, meine Kinder oder ihre, dann bin ich dafür, dass ihre Kinder getroffen werden sollen. Das sage ich ganz deutlich, wenn es ums Überleben geht und keinerlei Gespräch möglich ist, dann sollen meine Kinder überleben und nicht ihre. Ja, es tut weh, was in Gaza passiert ist, aber ich denke nicht, dass es deswegen Leute bei uns gibt, die sich jetzt groß Vorwürfe machen, was wir denen da in Gaza angetan haben."
Mira Raz, Rabbinerin der Reformgemeinde Mishkenot Ruth Daniel in Tel Aviv, gehört ganz gewiss nicht zu den Hardlinern, die jegliche Verständigung mit den Palästinensern ablehnen. Und doch verteidigt sie ungewöhnlich scharf den jüngsten Krieg, der, wie sie sagt, nur dank des Raketenabwehrsystems "Eiserne Kuppel" nur ganz wenige Opfer auf israelischer Seite gefordert hat. Wut spricht aus ihren Worten und Verzweiflung, über eine Situation, die seit Jahren nicht von der Stelle kommt und im Gegenteil mit jeder Runde schärfer wird, immer mehr und immer sinnlosere Opfer fordert.

Weniger Wut, dafür umso mehr Resignation empfindet hingegen Motti Chen, Grafiker aus Petach Tikwa. Als 35-Jähriger gehört er einer Generation an, die mit der Verschärfung der Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern aufgewachsen ist und, wenn sie sich wie Motti als apolitisch definiert, Kontakte zur anderen Seite weder hat noch sucht und auch heißblütig verfochtene Aktionen wie jüngst wieder um den Tempelberg in Jerusalem eher beiläufig registriert.
"Ich persönlich fühle nicht so sehr den Unterschied vor oder nach dem Krieg, wir haben doch immer hier diese Wellen: Mal ist die Lage etwas schlimmer, dann wieder etwas weniger. Und wir hatten ja durchaus schon schlimmere Zeiten während der Intifada, also ich denke, das ist jetzt nur noch so ein Nachhall des Krieges, der sich hoffentlich verzieht und nicht in eine größere Gewaltwelle mündet."
Der Friedensprozess ist gescheitert und keiner will Verantwortung übernehmen
Den Niedergang des Oslo-Friedensprozesses hat Motti Chen als Scheitern der Politik und mehr noch der dahinter stehenden Personen erlebt. Bis heute unternähmen weder die israelische Regierung noch die Palästinenser etwas oder gar genug, um zu einer Lösung zu kommen:
"Ich denke einfach, dass die Strippenzieher bei uns und auch bei denen Interessen verfolgen, die einer kapitalistischen Gesellschaft und vielleicht auch nur ihnen selbst dienen, aber nicht den beiden Völkern und ihren Bedürfnissen. Sie bekämpfen sich gegenseitig, anstatt nach einer wirklichen Lösung zu suchen."
Mangelnde politische Initiative sieht auch der Philosoph und Soziologe Prof. Josef Agassi als Ursache von Resignation und Hoffnungslosigkeit. Diese wiederum wurzele in der seit der Staatsgründung bestehenden Weigerung, Staat und Religion zu trennen, und damit ganz bewusst auszublenden, dass nicht alles, was heute israelisch ist, auch automatisch jüdisch sein muss.
"Wir sagen, dass wir hier in Israel nur ein kleiner Teil der Nation sind, der praktisch alle Juden angehören und so sorgen wir uns eben darum, dass sie hierher kommen. Doch verhindert genau dieses Bestreben, dass der moderne Nationalstaat Israel sich endlich und nur um sein Staatsvolk kümmert. Daher ist alles Denken in Israel apolitisch, und deshalb sind wir auch in allem so gut, nur nicht in der Politik."
Selbst seitenlange und lautstark in allen Medien geführte Debatten, sagt Prof. Agassi, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es kein israelisches politisches Konzept gibt, wie der Dauerkonflikt mit den Palästinensern gelöst werden könnte. Dies führe zu Frustration und Verzweiflung und gegenüber den Arabern, in Israel selbst wie außerhalb, auch zu wachsendem Hass.
"Ja, wir hassen sie! Wir haben Angst, dass es eine arabische Mehrheit geben wird und wir vertrieben werden oder sie uns ins Meer werfen. Wir, die wir so ein starker Staat sind, benehmen uns mit einer politischen Ängstlichkeit, die völlig unpassend ist. Unsere militärische Stärke ist einmalig in der Welt, aber unsere fehlende politische Stärke wollen die Leute nur schwer wahrhaben."
Doch gibt es auch erste Anzeichen für ein Umdenken. Aus einer Umfrage, die das Israelische Institut für Regionale Außenpolitik in Ramat Gan im September durchgeführt hat, geht hervor, dass nur etwa 13 Prozent der Israelis ihrem Staat allseits gute Noten erteilen. Rund ein Drittel der Bevölkerung hingegen ist sehr unzufrieden mit dem, was die Regierung so veranstaltet, und knapp die Hälfte der Befragten gab an, das Ansehen Israels in der Welt durch den jüngsten Gaza-Krieg beschädigt zu sehen. Die Umfrage, sagt Institutsdirektor Dr. Nimrod Goren, bestätige einerseits das Gefühl der Unzufriedenheit, zeige andererseits aber auch erstes, wenngleich noch schwaches Umdenken, das vor allem dem schwindenden internationalen Ansehen Israels geschuldet sei.
Ergebnis der nunmehr fünften Umfrage
"Die Leute sehen schon den Zusammenhang zwischen dem Friedensprozess und dem Ansehen Israels in der Welt. Und sie geben dem Fortschritt des Friedensprozesses auch zunehmend den Vorrang, was ja zeigt, dass sie den Prozess auch befördern wollen. Und dass es auch Konsequenzen haben wird, wenn dies nicht passiert. Egal inwieweit sie auch den Einzelnen betreffen mögen. Das ist neu und hat es so bisher nicht gegeben."
Die nunmehr fünfe Umfrage, die seit vergangenem Jahr unter anderem von der Friedrich-Ebert-Stiftung unterstützt wird, hat nach den Worten von Dr. Goren auch gezeigt, dass gerade in den Bevölkerungskreisen, die traditionell als rechts, religiös und nationalistisch gelten, eine gewisse Bewegung in Richtung auf mehr Pragmatismus und weg von Ideologie und allzu platter Propaganda zu verzeichnen ist.
Die politischen Akteure Israels, allen voran die Diplomaten des Außenministeriums, sieht Nimrod Goren als Zielgruppe der Umfrageergebnisse. Sie und nicht länger die Militärs sollten künftig die Beziehungen zu, und ja, auch die Konflikte des Landes mit seinen Nachbarn regeln, was im Übrigen in der ganzen Welt üblich sei. Darüber hinaus will das Mitvim-Institut, neben der Zusammenarbeit mit nationalen Friedensinitiativen, auch eine Plattform bieten, auf der sich neue und zunächst inoffizielle internationale Kontakte entwickeln können. Israel gehöre in den Nahen Osten, sagt Goren, und brauche neben den strategischen Partnern in Europa und Übersee vor allem die Partnerschaft regionaler Nachbarn wie Ägypten und der Türkei.
Unter jungen Leuten vor allem genießt indes seit dem letzten Sommer eine andere Bewegung großen Zuspruch. "Olim leBerlin" heißt die auf facebook gegründete Gruppe, "Auf nach Berlin" zu Deutsch. In der israelischen Öffentlichkeit werden sie zumeist wohlwollend belächelt, in den Medien indes heftig attackiert und gar als "Vaterlandsverräter" stigmatisiert. Motti Chen kann die "Schokopudding-Revoluzzer", wie man sie hier auch nennt, gut verstehen. Aus finanziellen Gründen lebt er seit einigen Jahren mit Frau und zwei kleinen Töchtern in einer Wohnung, die die Schwiegereltern vergleichsweise billig in einer Siedlung in der besetzten Westbank gekauft haben. Aber weggehen ist für ihn keine Option, vor allem nicht wegen der Kinder, die in der Großfamilie behütet aufwachsen.
"Es ist sehr schwer, hier zu leben, und ich sehe auch nicht, dass die Regierung sich bemüht, die Probleme des Alltags zu lösen. Also gerne hätte ich auch diese Erfahrung mal für eine Zeit in Berlin gemacht, um mal etwas Luft zu holen und nicht immer nur in dieser Alltagsenge hier zu stecken."
Auch für Mira Raz kommt Weggehen nicht in Frage. Aber anders als viele junge Leute mag sie auch nicht resignieren. „Wer Erbarmen hat mit den Grausamen, wird am Ende grausam gegenüber den Barmherzigen sein", zitiert die Rabbinerin dann eine talmudische Weisheit. Israel habe im Sommer diejenigen in die Schranken gewiesen, deren Grausamkeit nicht nur Gaza, sondern auch Israel terrorisiert. Und doch wünscht sich Mira Raz als Lehre aus der auf beiden Seiten verheerenden und traumatisierenden Erfahrung des jüngsten Gaza-Krieges, endlich zu lernen, dass Krieg nie eine Option war und dies auch in Zukunft nicht sein wird:
"Ab heute soll man Demos veranstalten, die Straßen blockieren, von mir aus sollen sie sogar eine Intifada machen! Alles ist besser als Raketen auf Tel Aviv zu schießen und unsererseits Gaza zu bombardieren, das ist wirklich keine Option! Und wir hoffen, dass wir vielmehr eine Situation erreichen, in der nach diesem ganzen Leid und Unglück endlich etwas Gutes entstehen kann. Ja, wirklich, es soll nur Gutes daraus hervorgehen."
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