Nahost-Experte: Ägypten übernimmt Schlüsselrolle im Gaza-Konflikt

19.11.2012
Die ägyptische Regierung sei die "entscheidende Macht", um auf die extremistische Hamas im Gazastreifen einzuwirken, sagt Stephan Vopel, Israelexperte der Bertelsmann Stiftung. Die Vermittlerrolle sichere den Ägyptern die Unterstützung der USA.
Nana Brink: Es hört sich schon fast hilflos an, wenn Bundesaußenminister Guido Westerwelle in einer großen deutschen Sonntagszeitung zum Nahen Osten schreibt: "Die Lage ist brandgefährlich. Es muss gelingen, die Logik von Tod und Zerstörung zu durchbrechen." Heute reist der Bundesaußenminister nach Israel. Und die Zahlen sprechen allerdings eine ganz andere Sprache: Nach sechs Tagen stieg die Zahl der Toten nach Angaben der Hamas auf über 80, und auf israelischer Seite wurden drei Tote gemeldet. Wieder hat eine Rakete fast Tel Aviv erreicht.

Am gestrigen Sonntag hat Ministerpräsident Benjamin Netanjahu noch einmal klargestellt, dass Israel zu einer Ausweitung seiner Angriffe bereit ist. Ob er damit auch eine vielleicht bevorstehende Bodenoffensive meint, war nicht klar. Am Telefon ist jetzt Stephan Vopel, Israelexperte der Bertelsmann-Stiftung. Einen schönen guten Morgen, Herr Vopel!

Stephan Vopel: Guten Morgen!

Brink: Wird es eine Bodenoffensive geben?

Vopel: Das lässt sich zurzeit nicht mit Sicherheit vorhersagen. Klar ist, dass die Israelis kein Interesse haben, eine Bodenoffensive Wirklichkeit werden zu lassen, aber es ist gewissermaßen die letzte Karte, die sie im Ärmel haben, um Druck auf die Hamas auszuüben.

Brink: Nun hat ja auch der amerikanische Präsident davor nicht eindeutig gewarnt, aber er hat sich zumindest zweideutig verhalten und hat gesagt, das wäre nicht wünschenswert. Folgen die Israelis ihm?

Vopel: Die Israelis werden den Wunsch Obamas sicherlich in ihrer Abwägung berücksichtigen, aber er wird nicht ausschlaggebend sein. Wichtig für die Israelis in der jetzigen Phase ist es - oder das Ziel auch der Operation war es ja, in erster Linie ihre Abschreckungsfähigkeit gegenüber der Hamas und anderen militanten Organisationen im Gazastreifen wiederherzustellen, und es wird sich daran bemessen, ob es gelingt, jetzt in den nächsten Tagen, einen Waffenstillstand zwischen beiden Seiten herzustellen. Sollte es nicht dazu kommen, steht zu befürchten, dass die Israelis bereit sind, auch eine Bodenoffensive als letzten Trumpf einzusetzen.

Brink: Und wie schätzen Sie die Lage dann ein? Wird es gelingen, diesen Waffenstillstand herzustellen?

Vopel: Das ist im Moment völlig offen. Das hängt natürlich auch davon ab, inwieweit es den Ägyptern gelingt, die ja auch unter ihrer neuen Führung vor Ort die entscheidende Macht sind, auf die Hamas einzuwirken, ob es ihnen gelingt, genügend Druck aufzubauen, um die Hamas zum Einlenken zu bewegen.

Brink: Noch mal auf die israelische Seite betrachtet. Sie haben jetzt schon den anderen Player, also die anderen Spieler in dieser Region benannt. Israels Umfeld, seine Bündnisstruktur in der Region hat sich ja nach dem Arabischen Frühling geändert. Aus israelischer Sicht nicht unbedingt zum Vorteil. Ist das auch ein Grund für die Eskalation, die wir jetzt sehen?

Vopel: Also Israel sieht sich nach den Veränderungen der Regime, insbesondere in Ägypten - es zeichnet sich auch eine Veränderung in Syrien ab - natürlich in einer völlig anderen geopolitischen Lage. Das, was bislang, wenn nicht verlässliche Verbündete, so doch zumindest berechenbare Akteure waren, sind jetzt Regime geworden, die Israel prinzipiell nicht freundlich gesonnen sind. Insofern ist Israel mehr denn je, subjektiv gesehen, darauf angewiesen, die Abschreckungsfähigkeit wiederherzustellen, und das war ein wesentlicher Grund, diese Offensive zu eröffnen.

Brink: Aber es gibt ja dann irgendeinen Punkt, wo das erreicht ist. Denken Sie, dass dieser Punkt für Israel erreicht ist? Dass sie das jetzt bewiesen haben und dann in Gespräche gehen können?

Vopel: Also die Israelis, wie gesagt, sie haben kein Interesse daran, diese Offensive fortzusetzen. Für die Israelis kommt es jetzt darauf an, ob die Hamas bereit ist, auf die israelischen Forderungen einzugehen. Und das ist insbesondere ein Versprechen der Hamas, keine weiteren Raketenangriffe von Gaza aus auf Israel zuzulassen, auch Angriffe auf israelische Patrouillen an der Grenze einzustellen. Das sind die wichtigsten Forderungen Israels. Die Hamas wiederum möchte nicht nur, dass die Israelis ihre Offensive beenden. Die Hamas möchte, und das ist eine sehr wesentliche Forderung, und um die wird es ganz zentral gehen, die Hamas möchte, dass die Blockade des Gazastreifens durch Israel, an der Ägypten aber auch mit beteiligt ist, dass diese Blockade aufgehoben wird.

Brink: Wo sind denn die Partner, wenn man sich das Umfeld anguckt? Ägypten - kann Ägypten wirklich ein Vermittler sein? UN-Generalsekretär Ban Ki Moon reist ja heute nach Kairo. Es gibt also eine rege internationale Reisetätigkeit. Ist Ägypten der entscheidende Vermittler?

Vopel: Ägypten ist die Macht, die vor Ort den meisten Einfluss ausüben kann. Sie ist auch unmittelbar beteiligt, weil eben der Gazastreifen ja nicht nur an Israel grenzt, sondern im Süden auch an Ägypten. Und die Palästinenser möchten eigentlich, dass der Grenzübergang zu Ägypten wieder frei geöffnet wird. Das ist etwas, was die Ägypter nicht unbedingt wollen, und das wollen auch die Israelis nicht, weil sie Angst haben, dass die Hamas sich durch - wenn die Grenzen nicht mehr kontrolliert werden - dass die Hamas sich dann wieder bewaffnet.

Aber Ägypten ist unbedingt darauf angewiesen in seinem Agieren jetzt, sich amerikanische Unterstützung zu sichern. Natürlich ist ideologisch die neue ägyptische Führung, die Muslimbruderschaft, eng mit der Hamas verbunden, insofern sieht sie die Hamas politisch-ideologisch als Freund, anders, als das unter Mubarak der Fall war. Aber Ägypten braucht, oder die ägyptische Regierung braucht, um ihre innenpolitischen Probleme lösen zu können, um gegenüber der eigenen Bevölkerung auch als Verbesserung gegenüber dem alten Regime dazustehen, unbedingt wirtschaftliche Verbesserungen, und dafür braucht es die Amerikaner. Insofern ist die Motivation der ägyptischen Führung, sich hier als Broker, als Vermittler zwischen beiden Seiten einzusetzen, sehr stark.

Brink: Letzte Frage: Trauen die Israelis den Ägyptern die von Ihnen beschriebene Rolle zu?

Vopel: Ja. Das ist die Hoffnung der Israelis, dass sich Ägypten auch unter einer neuen politischen Führung als verlässlicher Akteur beweist. Und die Tatsache, dass die Israelis sich auch in Kairo jetzt an den Verhandlungen um einen Waffenstillstand beteiligen auf unterer politischer Ebene, ist ein Zeichen, dass man Ägypten hier eine Chance einräumt.

Brink: Stephan Vopel, Israel-Experte der Bertelsmann-Stiftung. Schönen Dank, Herr Vopel für das Gespräch!

Vopel: Bitteschön!

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