Nachruf auf Peter Gay

Innenansichten der Moderne

New York City, Upper West Side
Die Upper West Side in Manhattan – hier lebte und starb der deutschstämmige Kulturhistoriker Peter Gay (1923–2015) © dpa / picture alliance / Benjamin Beytekin
Von Michael Köhler · 13.05.2015
Er floh 1939 vor den Nazis in die USA und hörte auf, deutsch zu sprechen: Peter Joachim Israel Fröhlich. Zurück kam er als amerikanischer Staatsbürger Peter Jack Gay. Er wurde in Deutschland durch seine Jugenderinnerungen "Meine deutsche Frage" bekannt, als Historiker des bürgerlichen Zeitalters fragte er nach den Antrieben und Wurzeln der neuen Kultur. In New York ist er nun mit 91 Jahren gestorben.
Was er über das Bauhaus und seinen Gründer Walter Gropius sagte, trifft auch auf ihn selber zu. Die Moderne trägt zu einem großen Teil auch Anteile der Vergangenheit in sich, auch wenn Sie behauptet, sie abgestreift, hinter sich gelassen zu haben. Walter Gropius, den Vater des Laboratoriums der Moderne, hatte er in Massachusetts besucht. Und eines seiner letzten dicken Bücher im Fischer Verlag heißt "Die Moderne. Geschichte eines Aufbruchs". Den Aufbrüchen, den Ab- und Umbrüchen insbesondere der Jahrhundertwende galt seine Aufmerksamkeit. Er interessierte sich für das, was er den "modernen Stil" nannte: Saties und Strawinskys Musik, die Literatur Kafkas, Schnitzlers und Rimbauds.
Gay schreibt: "Die Jahrzehnte um die Wende zum 20. Jahrhundert waren also entscheidend für die Karriere der Moderne in Kunst und Kultur."
Den aus Deutschland vertrieben Juden Peter Gay, der als "Peter Joachim Israel Fröhlich" 1939 Nazideutschland verließ und in Yale Professor wurde, interessierten die Aussichten einer demokratischen Kultur, die den Modernen am Herzen lag, eine Emanzipation durch Kunst. Früh hatte er selber Klavierunterricht genossen. Der Künstlertypus war reizvoll. Den professionellen Außenseitern galt seine Aufmerksamkeit: Baudelaire und Schnitzler, Freud und anderen widmete er Studien.
Erforschung des Herzens
Wer sich für die Bohème interessiert, musste, darin war er sich sicher, auch das Bürgertum studieren. Fünf Bände umfasst allein seine Geschichte des bürgerlichen Zeitalters im Beck Verlag. Über Sexualität und die Erziehung zur Liebe, die künstlerische und psychoanalytische Erforschung des Herzens schrieb er Standardwerke. Seine Sigmund-Freud-Biografie ist ebenso lesenswert wie seine eigenen Erinnerungen.
Denn das ist die andere Seite an dem produktiven Buchautor und Kulturhistoriker Peter Gay. Es ist die Geschichte eines deutsch-jüdischen Emigranten. Er erzählt sie eindrucksvoll in seine Jugenderinnerungen "Meine deutsche Frage", für die er den Geschwister Scholl Preis bekam. Wie so viele deutsche Juden fragte er sich, warum er nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler nicht gleich die Koffer packte.
Er wollte das nicht glauben und blieb mit seinen Eltern. Als er 1939 floh, hörte er auf, Deutsch zu sprechen. Als Peter Joachim Israel Fröhlich verließ er Deutschland, als amerikanischer Staatsbürger Peter Jack Gay kehrte er 1946 auf Besuch zurück. Lange hatte er sich geweigert, Deutschland zu betreten. So wie er kehrten viele Emigranten nicht mehr dauerhaft zurück, führten ein Leben als Künstler, Wissenschaftler, Akademiker oder Gelehrter in USA oder Kanada.
Radikale Lösung für die Gegenwart
Das bürgerliche Berlin hatte, dafür steht sein Lebensweg auch, eine der tragenden kulturellen Säulen verloren. Peter Gays Eltern waren aus einfachen schlesischen Verhältnissen. Sohn Peter wurde in Amerika Professor an der Eliteuniversität Yale. So wie Walter Gropius 1918 davon sprach, dass eine Welt zu Ende sei und eine radikale Lösung für die Gegenwart gesucht werden müsse, fragte Peter Gay, nach den Antrieben und Wurzeln der neuen Innenausstattung der Kultur.
Die Modernen waren nicht alle gegen die Vergangenheit und die neuen Individualisten liebten die Kollegialität der Neuerer. Peter Gay zeichnete das auf. Er hat die Innenansichten der Moderne erforscht. Und zu denen zählt auch die unabgelebte, die verdrängte Vormoderne. So wurde Peter Gay seine deutsch-jüdische Herkunft nicht nur nicht los, sondern unterbrach diese Existenz und machte sich auf die Suche nach den kulturellen Wurzeln.
Nach dem Tod seiner Frau 2006 lebte er zurückgezogen und traurig an der Upper West Side in New York. Diesen Typus des Gelehrten gibt es nicht mehr. Aber wir können seine Bücher lesen.
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