Nachkriegsliteratur

Große sprachliche Energie

Moderation: Joachim Scholl · 17.01.2014
Als junger Leser hat Jan Philipp Reemtsma mit Geld aus seinem Erbe Arno Schmidt von finanziellen Sorgen befreit. Schmidt gehöre zu den Avantgardisten und habe die Grenzen des literarisch Ausdrückbaren verschoben, so der Literaturprofessor.
O-Ton Arno Schmidt:

”Es hat einigen beliebt, mich als deutschen Künstler hinzustellen. Ich protestiere feierlichst gegen diese Lüge. Was ich geworden, habe ich zunächst den modernen Franzosen von _48, dem alten und dem jungen Italien und dann mir selbst zu verdanken. Den Deutschen bleibt das Verdienst, mich zeitlebens angefeindet und immer schlecht bezahlt zu haben. Das hat Anselm Feuerbach gesagt, auch ein großer Mann. Denn es dürfte ja schwerfallen, in so gedrängter Kürze jemals wieder so viel Ungenügendes und Verkehrtes anzutreffen wie in dem Wort vom Volk der Dichter und Denker."
Joachim Scholl: So klang das, wenn Arno Schmidt sprach. 1979 ist er gestorben, nur 65 Jahre wurde der Schriftsteller alt. Morgen jährt sich sein Geburtstag zum 100. Mal. - Am Telefon begrüße wir jetzt Jan Philipp Reemtsma, Literaturprofessor, Gründer und Vorstand der Arno-Schmidt-Stiftung. Er hat Arno Schmidt noch persönlich gekannt und ihn in den letzten Lebensjahren unterstützt. Guten Morgen, Herr Reemtsma.
Jan Philipp Reemtsma: Guten Morgen.
Scholl: Ein toller Knabe? Zuerst denkt man: Blödsinn! Man liest weiter, man ist entzückt: herrliche Bilder, Expressionismus mit drei Ausrufezeichen. Das hat der große Walter Jens einst notiert, 1951, nach seiner ersten Lektüre eines Arno-Schmidt-Textes.

Wie ging es Ihnen, Herr Reemtsma, als Sie Arno Schmidt das erste Mal gelesen haben?

Der Schriftsteller Arno Schmidt (undatiertes Foto)
Der Schriftsteller Arno Schmidt (undatiertes Foto)© AP Archiv
Reemtsma: Das erste Mal habe ich Schmidt mehr oder weniger aus Pflichtbewusstsein gelesen. Ich studierte Literatur und dann eben auch die deutsche Nachkriegsliteratur gehörte zum Programm. Damals erschien gerade "Abend mit Goldrand", das ist sein letzter vollendeter Roman, und da tat ich mich etwas schwer. Das ist eine ungewöhnliche Form gewesen, Dialogroman im Stil des 18. Jahrhunderts, auch wie "Zettel's Traum" und die anderen späten Dinge eine Faksimile-Edition, und mich störte das ein bisschen, dass sich das für mich zunächst sperrte.

Ich habe dann angefangen, Schmidt chronologisch zu lesen, und das war dann ein Leseerlebnis, das mich nicht mehr losgelassen hat und der Autor hat mich nicht mehr verlassen.
Scholl: Walter Jens war vermutlich wie viele Erstleser auch irritiert durch das Schriftbild, durch jene phonetische Schreibweise, die Arno Schmidt für seine Romane und Erzählungen entwickelt und gepflegt hat. Da fehlen Vokale in den Worten, eine wilde Interpunktion, mit Klammern wird gearbeitet, es ist ein assoziativer Stil. Schmidt selbst hat diese Technik mal als "präzise und erbarmungslos" bezeichnet. Was wollte er eigentlich damit erreichen?
Reemtsma: Na ja, die Verschreibungen, auf die Sie anspielen, das ist natürlich ein sehr einfacher Weg, Akustisches in die Sprache mit hineinzunehmen. Dialekte treten auf, Umgangssprache tritt auf und so weiter. Die Interpunktion ist, das sehen Sie sehr schnell, vielleicht unkonventionell, aber keineswegs wild, sondern wie nun es eben eine der Aufgaben der Interpunktion in der Poesie ist, die Sprache zu rhythmisieren, Pausen deutlich zu machen, etwas anzudeuten, was neben dem Gesagten mitläuft, ein Stutzen, ein verblüfft sein, ein nach Gedanken suchen oder so etwas, das wird alles mit assoziativ angetippt durch die Satzzeichensetzung.

Das haben Sie eigentlich sehr schnell raus, das stört Sie nicht, und wenn Sie einmal Schmidt laut vorlesen, dann werden Sie merken, dass Sie die, obwohl man das ja eigentlich bei Satzzeichen scheinbar gar nicht kann, doch gleichsam mitlesen.
Scholl: Es gibt mittlerweile bis zum Klischee geronnene Charakterisierungen des Mannes, so das kauzige Genie, der intellektuelle Snob, der Hagestolz, der in jede Hand, die ihm helfen will, erst mal kräftig hineinbeißt. Sie, Herr Reemtsma, haben Arno Schmidt noch kennengelernt, zwei Jahre vor seinem Tod. Sie selbst waren Mitte 20. Wie haben Sie ihn erlebt?
Ein höflicher, offener und zuvorkommender Mensch
Reemtsma: Ich muss dazu vorwegschicken, dass mich diese Klischees eigentlich nie interessiert haben, weil na ja, die Öffentlichkeit macht sich ein Bild von Personen und reicht dieses Bild weiter, und das ist ja meistens ziemlich unwichtig. Interessant ist ja das Werk selber. Schmidt war ein höflicher, sehr offener und zuvorkommender Mensch.
Scholl: Aber er hat ja auch geschrieben: "Jegliche Berührung mit anderen setzt erfahrungsgemäß meine Leistung herab und stört mich auf Tage hinaus."
Reemtsma: Nun, das mag man schreiben, vielleicht auch hinschreiben in einem Zustand von Ärgernis oder Nervosität. Aber es ist doch ganz plausibel. Wenn jemand mitten in einer hoch konzentrierten Arbeit ist, es mag eine literarische sein, mag eine wissenschaftliche sein, was auch immer, dann sind Besuche oft Störungen und unterbrechen den Arbeitsrhythmus. Das ist doch gar nicht wunderlich.

Und wenn jemand für sich beschließt, dass seine Lebensform nun nicht die eines Städters ist, desjenigen, der in einer Kulturszene umtriebig ist, sondern der auf dem Land lebt, um seine Ruhe zu haben, nun ja, dann kann man ja nicht einfach vor der Tür stehen und klingeln und sagen, ich bin jetzt da und bin ein Leser und möchte gerne eingelassen werden.
Das ehemalige Haus des Schriftstellers Arno Schmidt steht am 08.01.2014 in Bargfeld (Niedersachsen).
Arno Schmidts Haus in Bargfeld© picture alliance / dpa / Arno Schmidt
Scholl: Bargfeld bei Celle, das ist der Wohnort von Arno Schmidt gewesen seit 1958, jetzt ein Ort der Literaturgeschichte, genau wie Ihre Bekanntschaft mit Arno Schmidt, Herr Reemtsma, auch inzwischen Literaturgeschichte ist - bis zum Abwinken erzählt, aber einfach zeitlos schön, weil berührend: Der junge begeisterte Leser, der mit seinem Erbe den verehrten Autor wenigstens von allen finanziellen Sorgen befreien kann. Wie hat er denn eigentlich darauf reagiert?
Reemtsma: Er hat darauf interessanterweise so reagiert, dass er es sofort mit einem literarischen Projekt in Verbindung brachte, das er nicht selber finanzieren konnte, weil es zu lange dauern würde - ein literarisches Projekt, was er jahrelang immer als nächstes vor hatte, aber nicht angefangen hatte. Es hieß "Lilienthal oder die Astronomen".

Mein Angebot - es war gar nicht so gemeint, aber er hat mein Angebot sofort damit in Verbindung gebracht: Dann kann ich dieses Buch schreiben.
Scholl: Sie sollen ihm 350.000 Mark angeboten haben. Das war der damalige Gegenwert des Literaturnobelpreises. Stimmt das, Herr Reemtsma, und wenn ja, müsste das Arno Schmidts Sinn für Humor ja durchaus entsprochen haben, oder?
Für ihn war das Unabhängigkeit
Reemtsma: Ich weiß gar nicht, ob ich das mit dem Nobelpreis damals ihm gegenüber erwähnt habe. Das weiß ich gar nicht mehr. Die Summe stimmt. Es war mehr als er für die Abfassung des Romanes für sich rechnete in einer einkunftslosen Zeit, wesentlich mehr. Aber für ihn war das Unabhängigkeit, und das hat er mir in ein Buch hineingeschrieben zu diesem Datum Independence Day.
Scholl: Arno Schmidt zum 100. Geburtstag - wir sind hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Jan Philipp Reemtsma. - Wie würden Sie Arno Schmidts Bedeutung einschätzen, Herr Reemtsma, für die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts?
Reemtsma: Schmidt gehört zu den Avantgardisten, die es in einer Literaturentwicklung immer wieder gibt, die, wenn man sich so ausdrücken will, die Grenzen des literarisch Ausdrückbaren immer noch einmal verschieben, dem sich literarische, neue Ausdrucksmöglichkeiten eröffnen. Für Schmidt charakteristisch ist, als er in der Nachkriegsliteratur auftrat, die Verbindung von einem sehr klaren, harten Alltagsrealismus mit einer ganz großen konzentrierten poethischen sprachlichen Energie.

Das gab es so in seinem Umfeld nicht und ist in der Literatur des 20. Jahrhunderts in dieser Form einzigartig, wenn es auch natürlich Vorläufer hatte, im Expressionismus etwa oder bei Alfred Döblin.
Scholl: Wie würden Sie seine Wirkung und Strahlkraft eigentlich für heute einschätzen? Hat seine Literatur Einfluss gehabt und immer noch?
Reemtsma: Selbstverständlich. Die deutsche Nachkriegsliteratur würde ohne Schmidt anders aussehen. Nur darf man sich das nicht so vorstellen, dass Autoren dieser Art Schulen bilden von anderen Autoren, die dann so schreiben wie sie. Das wären dann bloße Nachahmer und die wären uninteressant. So was gibt es eigentlich in der Literatur nicht. Wenn jemand versucht, einen Autor nachzumachen, dann wird das immer medioker. Aber die Autoren, die nach einem solchen Avantgardisten kommen, die schreiben alle anders, als sie ohne ihn geschrieben hätten.
Scholl: Der weltliterarische Rang Arno Schmidts ist heute unbestritten. Zurecht vergleicht man sein großes Werk "Zettel's Traum" mit James Joyce "Finnegans Wake", man zieht oft die Parallele zu James Joyce. Dessen Weltgeltung hat Schmidt aber nicht erreicht. Er ist ein gewissermaßen innerdeutsches Phänomen geblieben, oder nicht?
Offene Reaktion in den USA und in England
Reemtsma: Nein, das würde ich so nicht sagen. Als die Werke Schmidts sehr spät, aber doch fast komplett ins Englische übersetzt worden sind, ist die Reaktion in den USA und in England im Grunde offener gewesen diesem literarischen Phänomen gegenüber, als das in Deutschland je gewesen ist, was daran liegt, dass sich die englische und amerikanische Presse nicht an den Klischees abarbeiten musste und die Hälfte des Artikels mit Anekdoten über einen Sonderling füllen musste, sondern sie haben sich direkt auf das Werk bezogen und das sehr kundig.
Scholl: Es gibt jetzt in diesen Jubiläumstagen landauf landab viele Veranstaltungen, Lesungen, Feiern, wo sich die Arno-Schmidt-Leser und die Gemeinde versammeln, und da wird mit Sicherheit auch, Herr Reemtsma, viel und laut gelacht. Und das sollten wir am Schluss, glaube ich, noch mal betonen, den Humor, den Witz, den Geist, den klugen Spaß, der in dieser Prosa steckt. Und für alle nun, die uns jetzt zuhören und denken, muss ich doch mal lesen, was ist Ihrer Meinung nach der beste Einstieg in die Welt des Arno Schmidt?
Reemtsma: Ich würde empfehlen "Brand's Haide", ein früher Roman, beschreibt die unmittelbare Nachkriegszeit von einem aus Kriegsgefangenschaft entlassenen, der sich in einem norddeutschen kleinen Dorf wieder einrichtet, ein sehr poethischer Roman, der eigentlich alle Stärken der schmidtschen Prosa aufweist.
Scholl: In memoriam Arno Schmidt - vor 100 Jahren wurde der Schriftsteller geboren und wir haben hier an ihn erinnert mit Jan Philipp Reemtsma.

Besten Dank Ihnen, Herr Reemtsma, für das Gespräch.
Reemtsma: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Hören Sie im Originalton, was Arno Schmidt über die Deutschen dachte: Arno Schmidt zum "Volk der Dichter und Denker"

Auch der Länderreport, heute um 13.07 Uhr, widmet sich dem Schriftsteller Arno Schmidt. Der Autor Matthias Kußmann hat sich in dessen Wohnort Bargfeld umgesehen. "Mond, Nebel & Regen erste Qualität“ nennt er sein Feature.

Hören Sie um 0.05 Uhr am 18. Januar, die Lange Nacht über Arno Schmidt mit dem Titel "Geräusche aus dem Zettelkasten"; Regie: Monika Küntel.

Das Kalenderblatt am 18. Januar um 5.45 Uhr und um 9.55 Uhr widmet sich ebenfalls dem 100. Geburtstag des Schriftstellers Arno Schmidt.

Mehr zum Thema