Nachkriegsgeschichte

Die Kunst des Möglichen

Fünf Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), so die offizielle Bezeichnung der Montanunion. Dazu gehörte seit 1952 auch Italien.
Fünf Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), so die offizielle Bezeichnung der Montanunion. Dazu gehörte seit 1952 auch Italien. © dpa
Von Andreas Rinke · 01.05.2014
Den Euroskeptikern antwortet der Historiker Wilfried Loth, dass Europa über 66 Jahre nur eine Richtung kannte: mehr Integration, eine größere EU. Nicht aus Idealismus, sondern aus nationalen Interessen.
Er hat es ernsthaft und erfolgreich versucht: Mehr als 400 Seiten lang hat er sich dagegen gewehrt, in das Pathos der Integrationsanhänger zu verfallen oder dem europakritischen Zeitgeist zu erliegen. Stattdessen zeichnet Wilfried Loth sehr nüchtern die gesamte Entwicklungsgeschichte des größten Wirtschaftsraums und Wertebündnisses auf dieser Erde nach.
Bewusst verzichtet er auf jede Einleitung und versetzt den Leser lieber sofort in den Mai 1948, als in Den Haag mehr als 700 Persönlichkeiten aus 28 Staaten über Europas Zukunft diskutierten. Denn, so seine versteckte Logik, wer heute über die EU und ihre Zukunft urteilen will, muss erst einmal verstehen, wie, warum und in welchen Stufen die Europäische Union von Europarat und Montanunion ausgehend über die Zwischenstufe Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG entstanden ist.
Erst ganz am Ende des Buches, nach der schonungslosen Schilderung von 66 Jahren knallharter Interessenpolitik der europäischen Regierungen, erlaubt sich der Geschichtsprofessor der Universität Duisburg-Essen doch noch ein kurzes eigenes Urteil angesichts der Debatten während der jüngsten Schuldenkrise:
"Nichts macht die Europäische Union so attraktiv wie ihr Erfolg ... Man tut auch gut daran, sich die Erfolge der Vergangenheit deutlicher vor Augen zu führen, als dies in der Fixierung auf die aktuellen Ärgernisse für gewöhnlich der Fall ist."
Die vorsichtige Würdigung der EU-Integration ändert aber nichts daran, dass Wilfried Loth durch seine Neutralität überzeugt. Sehr deutlich betont er, dass die "Nie wieder Krieg"-Parole eben nur einer von vier Grundpfeilern für die europäische Einigung war.
Als mindestens so wichtig erwies sich der anhaltende Drang der Nachbarn, Deutschland nach zwei furchtbaren Kriegen endlich in eine dauerhafte friedliche Nachkriegsordnung zu zwingen. Dazu kam der Druck der Wirtschaft, größere Märkte als die europäischer Nationalstaaten zu schaffen. Und viertens gab es den Wunsch der gebeutelten Staaten Europas, im erkennbar neuen Konzert der Siegermächte USA und Sowjetunion überhaupt noch eine Rolle zu spielen.
Deutschlands Einbettung in Europa
Faszinierend gerade für die Anfangsphase ist dabei Loths Ansatz, den Einigungsprozess weniger durch die gewohnte deutsch-französische Brille zu beschreiben. Stattdessen weist er den USA und Großbritannien einen entscheidenden Anteil daran zu, die Annäherung in Gang gesetzt zu haben. Zum einen trieben beide Länder Frankreich mit Blick auf die Sowjetunion zu einer koordinierenden Rolle auf dem Kontinent. Zum anderen löste das amerikanische Interesse an einem wieder erstarkenden West-Deutschland soviel Ängste in Frankreich aus, dass die europäische Einbettung des östlichen Nachbarn zum Dauerziel wurde.
In Loths facettenreicher Beschreibung lässt sich vor allem das Prozesshafte der europäischen Einigung sehr gut erkennen. Sie vollzog sich über viele kleine Schritte und auch über Phasen des scheinbaren Stillstands hinweg, wie zwischen 1976 und 1984 oder nach dem gescheiterten französischen Referendum über die EU-Verfassung 2005.
Dabei agierten die Regierungen immer nach demselben Muster. Die Europäer arbeiteten zusammen, weil sie in Zugzwang waren: Um Deutschland einzubinden, schuf man den Binnenmarkt. Weil die Märkte immer wieder gegen europäische Währungen spekulierten, verabredete man den Euro.
Weil eine Gemeinschaftswährung nur stabil sein kann, wenn die Länder eine ähnliche Finanz- und Wirtschaftspolitik betreiben, waren gemeinsame Institutionen und eine immer engere Absprache der Regierungen nötig. Aus einer Reform folgte der nächste Handlungsbedarf – weshalb der Untertitel des Buches auch "Eine unvollendete Geschichte" lautet.
Wilfried Loth beschreibt den dabei nötigen Prozess der permanenten Kompromissbildung erst zwischen sechs, dann 12, dann 15 und heute 28 Regierungen mit einem einfachen, aber wichtigen Satz:
"Europapolitik war immer die Kunst des Möglichen."
Auch wenn dies glühende Europa-Anhänger stets enttäuschte: Die Integration wurde über die Jahrzehnte immer auf den Feldern vorangetrieben, wo die Not gerade am größten oder die Vorlieben der jeweils Regierenden am deutlichsten waren.
Widerstand einzelner Akteure wie Charles de Gaulle oder Margaret Thatcher bewirkte stets nur eine Verzögerung, keinesfalls einen Stopp der Entwicklung – übrigens auch nicht gescheiterte Referenden in Staaten wie Frankreich, den Niederlanden oder Irland.
Kohl gab den Franzosen Kredit
Besonders verdienstvoll ist, dass der Historiker nebenbei einige nationale Mythen abräumt. So erinnert er etwa daran, dass die Bundesbank bereits 1992 der Banque de France einen Kredit von 39 Milliarden D-Mark zur Stützung der französischen Währung gegeben hatte und Kohl damals sehr direkt und erfolgreich bei der angeblich so unabhängigen deutschen Bundesbank intervenierte – lange vor den hitzigen Euro-Debatten.
Er verweist zudem auf inhaltliche Widersprüche in der Debatte: So wütete Thatcher 1988 zwar gegen den "europäischen Super-Staat". Aber sie kämpfte gleichzeitig für den einheitlichen Binnenmarkt – für den es zwangsläufig eine starke supranationale Behörde und gemeinsame Regeln brauchte.
Den deutschen Leser wird überraschen, dass vor allem die französischen Präsidenten de Gaulle und Mitterrand wesentlich strategischer und weitsichtiger über Europa nachdachten als ihre deutschen Kollegen. In Loths Darstellung scheint Deutschland erst seit den 90er-Jahren größeren und dann treibenden Einfluss gewonnen zu haben.
Den Euroskeptikern gibt Wilfried Loth zu denken, dass Europa über 66 Jahre nur eine Richtung kannte: mehr Integration und eine größere EU. Nicht aus Idealismus, sondern weil sich dies aus der Summe nationaler Interessen ergab. So gesehen, war der Integrations-Prozess bemerkenswert "alternativlos". Oder wie es die damalige lettische Außenministerin Sandra Kalniete 2004 sagte:
"Das ist der Triumph Europas über das 20. Jahrhundert."

Wilfried Loth: Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte
Campus Verlag, Frankfurt New York, Februar 2014
450 Seiten, 39,90 Euro, auch als ebook