Nach Osten deportiert

05.10.2012
Der argentinische Autor Ariel Magnus, geboren 1975, erzählt die Geschichte seiner Großmutter, die das KZ Auschwitz überlebt hat. Das Buch fußt auf recht chaotischen Interviewaufzeichnungen in den Jahren 2002 und 2004. Der Leser hat seine Mühe mit unvollendeten Sätzen und Zeitsprüngen. Auch der deutsche Titel irritiert.
Freiwillig nach Auschwitz, freiwillig ins Gas - ist das denkbar? Der argentinische Autor Ariel Magnus, geboren 1975, erzählt eine Geschichte, die um das Unvorstellbare kreist. März 1943: Emma, 22, eine Jüdin aus der Gegend von Wuppertal, folgt ihrer blinden Mutter ins KZ Theresienstadt.

Als die Mutter 1944 weiter nach Osten deportiert wird, fährt die Tochter mit, in einem Zug voller Blinder. Auf der Rampe von Auschwitz drängen die Frauen zueinander, doch ein SS-Mann, vielleicht Josef Mengele, stößt Emma zurück. Der Schlag zertrümmert ihren Kiefer – und rettet ihr das Leben. Sie übersteht den Todesmarsch, wird in Bergen-Belsen befreit, nach einer Odyssee landet sie in Brasilien.

Lange Zeit später erzählt Emma einem Journalisten und Schriftsteller dort diese Geschichte – ihrem Enkel Ariel Magnus. Ja, Emma ist so authentisch wie der Bericht, ein Interview, über Tage mitgeschnitten im Januar 2002. 2004 - Magnus lebt gerade in Berlin – fährt Emma den Enkel besuchen, gemeinsam machen sie eine Reise zu so aufgeladenen Orten wie Weimar-Buchenwald. Der Trip bildet die zweite Ebene des Buchs, das im Spanischen schlicht "La abuela" heißt, "Die Großmutter"; der deutsche Titel irritiert.

Magnus ist ein preisgekrönter, für Sprachwitz und Fantasie gelobter Erzähler, doch mit dem Stoff aus der Wirklichkeit hatte er offenbar Mühe. Der Autor charakterisiert das Chaotische in "Omas" Gesprächsfluss - sturzbachartiges Deutsch, Flashbacks und Flüche, unvollendete Sätze, Zeitsprünge –, und dieses Chaos übertrug sich auf den Text. Straffung, Ordnung hätten dem Buch gut getan.
Auschwitz: mehr als drei, vier grauenhafte Details erfahren wir nicht. "Oma" hat wenig berichtet. Und den Enkel interessierte etwas anderes sowieso stärker - ihre Art, die Vergangenheit zu "bewältigen". "Die ganze Familie, alle sind umgekommen, ich war die einzige Überlebende." Wie lebt sie mit dem Unfassbaren? Indem sie es weitgehend ignoriert. Über die Freundinnen in Brasilien, alles deutsche Jüdinnen, scherzt sie: "Zusammen sind wir tausend Jahre alt, wir sind das Tausendjährige Reich".

Emma liest bunte deutsche Blätter, hat das Geld auf einer deutschen Bank, und alle paar Jahre reist sie nach Deutschland, trotz des Schwurs, das Land zu meiden. Will sie zurückgehen? Nein, will sie nicht, sie will mehr, Magnus formuliert das Paradox: Die Großmutter versuche, "nie gegangen zu sein". Sie sei eine perfekte Überlebende - ohne Groll, jedoch ohne zu vergessen.

Das Grauenvolle bricht sich bisweilen Bahn durchs Unbewusste. Emma schläft wenig und nur mit Tabletten, auf Reisen ist die "vorbildliche Neurotikerin" immer am Packen, aus, ein, aus, ein. Heilen die Wunden irgendwann? Magnus hat gern in Deutschland gelebt, genau wie die Enkel oder Urenkel anderer "Unerwünschter" hier leben. Der Autor notiert es froh und skeptisch. "Für wie lange diesmal, ist schwer vorherzusagen."

Besprochen von Uwe Stolzmann

Ariel Magnus: Zwei lange Unterhosen der Marke Hering - Die erstaunliche Geschichte meiner Großmutter
Aus dem argentinischen Spanisch von Silke Kleemann
Kiepenheuer und Witsch, Köln 2012
176 Seiten, 18,99 Euro