"Nach diesem Schock können wir einfach nicht mehr so schreiben wie vor der Krise"

Hallgrímur Helgason im Gespräch mit Susanne Führer · 19.08.2011
Die Finanzkrise, die Island 2009 beutelte, habe eine Art Einfluss auf die isländischen Schriftsteller, sagt der Autor Hallgrímur Helgason. Die Krise "krieche sozusagen in unsere Texte" hinein, sagt er weiter. Ferner glaubt er, dass die Krise Island auf den Boden der Realität zurückgebracht habe.
Susanne Führer: Die große Welt war schon immer fasziniert vom kleinen Island. In diesem Jahr kann sich die deutschsprachige Bücherwelt auf viele Bücher aus Island freuen. 180 Titel werden ins Deutsche übersetzt neu erscheinen, denn Island ist in diesem Jahr das Gastland der Frankfurter Buchmesse. Die beginnt im Oktober, aber der isländische Schriftsteller Hallgrímur Helgason ist jetzt schon mit seinem neuen Roman "Eine Frau bei 1000°" in Deutschland unterwegs und fand noch Zeit für ein Interview im Deutschlandradio Kultur. Schön, dass Sie da sind, herzlich willkommen!

Hallgrímur Helgason: Danke schön!

Führer: Sie werden ja sicher auch im Oktober auf der Buchmesse sein und mit Ihnen die Hälfte Ihrer Landsleute, habe ich den Eindruck, 320.000 Einwohner hat Island und kein Problem, die Rolle als Gastland voll auszufüllen. Warum wird in Island so viel geschrieben und so viel gelesen?

Helgason: Ich weiß da noch keine wirkliche Antwort darauf. Ich kann vielleicht nur dazu sagen, es gibt eine 1000 Jahre alte Tradition, und das fing mit den Sagen an, und einige sagen ja, dass diese Sagen die ersten Romane waren, die überhaupt in der Welt geschrieben wurde, auf jeden Fall in den damaligen Jahrhunderten war das wahrscheinlich so. Dann waren wir allerdings Hunderte von Jahren lang isoliert, und erst im 20. Jahrhundert haben wir wieder Kontakt mit der Welt aufgenommen, und wir waren 600 Jahre stumm. Und nun musste die Welt erst mal wieder die isländische Stimme hören, und in den vergangenen Jahrzehnten haben wir das dann auch getan. Das ist vielleicht eine Erklärung, die in dieser Tradition der Sagen begründet ist und natürlich in unserer starken Isolierung, die wir so lange durchgemacht haben. Und viele meinen auch, wir hätten nichts Besseres zu tun, weil bei uns ja ewiger Winter, ewige Dunkelheit und ewige Kälte herrscht.

Führer: Die Zahlen sind ja wirklich beeindruckend, durchschnittlich kauft jeder Isländer pro Jahr acht Bücher, in Deutschland sind es nur anderthalb. Man sagt, sie hätten nichts Besseres zu tun, hierzulande haben die Menschen ja offensichtlich mit Kino, Fernsehen und Internet genug anderes zu tun. Warum ist das in Island keine Bedrohung für die Buchkultur?

Helgason: Nun, das ist eine andere schwierige Frage, auch in Island wird natürlich die neueste Technik ganz viel verwendet. Wir sind in der Welt das Land mit der höchsten Internetnutzung, und Facebook ist in Island eine ganz große Sache, man kann wahrscheinlich behaupten, die Leute schreiben heute mehr, als sie lesen. Aber es gibt nach wie vor bei uns diese Tradition, dass Bücher zu Weihnachten verschenkt werden. Und vor allen Dingen im Oktober und November kommen praktisch alle isländischen Bücher neu auf den Markt, werden dann gelesen, diskutiert, und dann wird entschieden, welche Geschenke man an die Verwandten macht, sodass man sagen kann, der isländische Buchmarkt ist ein Weihnachtsmarkt. Wir sind natürlich sehr froh darüber, aber natürlich denken wir uns auch, es ist natürlich ein bisschen problematisch, dass es diese Saison für Bücher nur zwei Monate lang gibt. Und das ist dann ein bisschen hektisch, weil alle Bücher kommen zur gleichen Zeit raus, man muss sie alle gelesen haben, man muss sich eine Meinung machen, welche dieser Bücher am besten sind. Und was vielleicht zu einem kleinen Einbruch erst einmal geführt hat, wo das Lesen ein bisschen abnahm, das war diese Wirtschaftskrise, die uns 2008 doch sehr stark getroffen hat, die unserem isländischen Selbstbewusstsein doch einen ganz schönen Schlag versetzte. Und seitdem interessanterweise haben die Leute wieder angefangen, mehr zu lesen. Also für uns, für die Literatur, war das eigentlich ganz gut, diese Krise, weil man hat sich auf die alten, vielleicht auch die altmodischen Werte wieder gestützt. Das heißt, man liest mehr, vor allen Dingen auch die isländischen Sagen, man kauft mehr Wollpullover und man isst Schaffleisch.

Führer: Sie haben die Krise gerade erwähnt, 2008 wäre Island ja finanziell gesehen sozusagen fast untergegangen, also die drei großen Banken sind Konkurs gegangen, zurück blieben Schulden, die zwölf Mal so hoch waren wie das Bruttosozialprodukt, die Isländische Krone wurde um 70 Prozent abgewertet, und trotzdem sagen viele Künstler - und Sie gehören offenbar dazu -, dass diese Krise dem Land eigentlich gut getan hat. Warum?

Helgason: Vor der Krise hatten wir unsere Identität verloren, wir haben Luftschlösser gebaut und wir hatten das Gefühl, wir hätten in isländischer Geschichte ein Diplom schon erworben, wir hätten das sozusagen endlich abgeschlossen. Dabei haben wir eine sehr komplizierte Geschichte. Unsere Geschichte ist voller Widersprüche, voller Plagen, voller Katastrophen, immer diesen ewigen Kampf um die Unabhängigkeit. Und wir glaubten dann plötzlich, beim Millennium, wir hätten einen neuen Platz in der Welt, wir seien das reichste Land, wir seien unabhängig, alles sei wunderbar und okay. Und dann hat uns diese Krise wieder auf uns selbst zurückgeworfen, uns daran erinnert, dass wir doch nur ein kleines Land sind, abhängig von den größeren Ländern. Und wir mussten dann einen großen Kredit aufnehmen beim Internationalen Währungsfonds, dann war alles so weit erst mal wieder in Ordnung, aber die Menschen hatten vorher eigentlich vergessen, isländisch zu sein. Sie aßen Sushi und tranken Champagner und lebten in einem Luxus, als würden sie in Milano, also in Mailand, oder in Japan leben und nicht eine ganz kleine Insel im Nordatlantik sein. Und jetzt habe ich das Gefühl, sind wir wieder Isländer, wir haben unsere Bodenhaftung zurückerlangt und irgendwie fühlen wir uns auch innerlich wieder besser, wir sind auch wieder relaxter und lockerer geworden.

Führer: Der isländische Schriftsteller Hallgrímur Helgason ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Wie ist denn diese große Finanzkrise eigentlich in die Literatur eingegangen, wie haben Sie, wie haben Ihre Kollegen das verarbeitet, das Thema?

Helgason: Ja, das ist ganz witzig, weil als die Krise kam, hat natürlich jeder behauptet, ja, ich hab es ja schon kommen sehen und Sie sehen das ja in meinem neusten Buch oder in dem Buch, was ich gerade schreibe, da habe ich diese Krise ja längst gespürt. Aber ich glaube, die Realität ist, dass niemand bei uns natürlich auf diesen Umfang dieser Krise so vorbereitet war, die uns in voller Kraft so getroffen hat, und das hat in erster Weile erst mal einen riesigen Schock ausgelöst, das ganze Land in einen Schockzustand versetzt. Und ich weiß nicht, inwiefern der Vergleich hinkt, aber ich glaube, dass der Weltkrieg in Europa, der Zweite Weltkrieg in Europa, auch so eine Art Schockzustand ausgelöst hat, dass in Deutschland beispielsweise nach dem Krieg die Literatur nicht mehr die gleiche war. Und so ist das jetzt bei uns in Island auch. Nach diesem Schock können wir einfach nicht mehr so schreiben wie vor der Krise. Insofern ist das auch eine Art Einfluss, und diese Krise kriecht sozusagen in unsere Texte hinein. In meinem neuesten Buch ist es zum Beispiel so, dass die Krise durchaus mit berührt wird. Sie ist jetzt nicht eine Art Hauptdarstellerin, das ist es nicht, aber wenn ich ein Buch schreibe, das 2009 spielt, muss dann natürlich diese Einflussnahme gespürt werden. Ich denke aber, mein großer Roman über die Krise, den muss ich noch schreiben, der folgt dann wahrscheinlich in zehn Jahren, weil man braucht ja auch immer einen gewissen Abstand, eine gewisse Distanz, um die Dinge dann wirklich literarisch aufzuarbeiten.

Führer: Das heißt, das Land hat sich schon sehr verändert durch die Krise, höre ich heraus bei Ihren Aussagen, aber es wirkt jetzt von außen auch so, als habe Island das auch erstaunlich schnell geschafft, die Krise zu überwinden. Wie ist denn das Leben heute in Ihrem Land, ist es so, wie der Berliner Bürgermeister sagt, arm, aber sexy?

Helgason: Ja, so könnte man das vielleicht ausdrücken, in der Beziehung ist Island vielleicht ein wenig wie Berlin: populär, aber arm. Allerdings sind wir eben auch in der Lage, dass wir auch schnell aus einer Krise wieder herauskommen, und ich würde denken, dass die Lage jetzt einigermaßen in Ordnung aussieht, muss aber dazusagen, ich bin kein Wirtschaftsfachmann, vielleicht ist ja doch alles viel, viel schlimmer, als wir glauben wollen, aber es ist so ein bisschen die isländische Art: Wir erholen uns sehr schnell und wir handeln auch sehr schnell. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass wir zum Beispiel in kürzester Zeit zwei Vulkanausbrüche hatten, und da muss man einfach schnell vor Ort sein - man muss schnell helfen, man muss schnell aufräumen. So liegt es uns ein bisschen im Blut, dass wir schnell reagieren, aber wir vergessen auch schnell. Und wir vergessen auch vielleicht diese Krise zu schnell, und dann kommt eine nächste, eine neue Krise. Aber ich würde insgesamt sagen, die Krise war eher eine Krise im Kopf, weniger eine Krise im Portemonnaie. Zwar sind die Dinge viel teurer geworden, aber niemand verhungert in Island. Und ich glaube, auch der Schlag gegen unsere Wirtschaftskraft war jetzt doch nicht so stark, wie man das zunächst vermutet hat, und in erster Linie haben wohl die Ausländer dafür die Zeche bezahlt, die bei isländischen Banken Kredite aufgenommen hatten. Ihr Deutschen beispielsweise, jetzt seid ihr arm, aber sexy!

Führer: Hallgrímur Helgason, vielen Dank für Ihren Besuch hier im Studio!

Helgason: Danke!

Führer: Der neue Roman "Eine Frau bei 1000°" kommt am 23. September bei Klett-Cotta heraus, und unser Dolmetscher war Jörg Taszman. Danke schön!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.