Nach der Revolution

In Tunesien kehrt Ernüchterung ein

Von Benno Müchler · 19.11.2013
Vor rund drei Jahren löste ein tunesischer Gemüsehändler durch seine Selbstverbrennung eine Welle der Empörung aus, die nicht nur Tunesiens Diktator Ben Ali stürzte, sondern auch eine Reihe weiterer Regime in der Arabischen Welt. Seitdem ist es in Tunesien jedoch kaum vorangegangen.
"Das erste Mal, als ich Yemina gesehen habe, da habe ich sie gehasst. Sie sah wie ein mega-bourgeoises Püppchen aus, mega-verwöhnt. Aber sie ist eigentlich sehr reif für ihr Alter, ohne dabei ihre kindliche Naivität zu verlieren, die ich verehre."
Yemina senkt verlegen den Blick, als ihr Freund Abderrahim Bahrini diese Worte spricht. Die überraschen ihn selbst ein wenig. Denn eigentlich ist er ein harter Typ.
Die beiden Schauspielstudenten sitzen vor dem Theater ihrer Schule – es ist eine umgebaute Kirche im Zentrum von Tunis – mit einem Glockenturm. Die Studenten dürfen dort nicht hinauf. Diese Regel zu brechen, war der Beginn ihrer Liebe.
Abderrahim Bahrini: "Wir haben dort oben fast eine Stunde verbracht, haben die Glocken geläutet. Tauben waren da oben. Es war wirklich unglaublich schön."
Yemina und Abderrahim wurden ein Paar, als Tunesiens Präsident Ben Ali schon gestürzt war. Dennoch spielt die Revolution in ihrer Beziehung eine zentrale Rolle. Sie spaltet die beiden. Der 25-jährige Abderrahim ist Aktivist, seitdem er 15 ist. Die 21-jährige Yemina erst seit der Revolution. Als radikale Islamisten ihren Freund bis nach Hause verfolgten, weil er während einer Demo ein islamkritisches Gedicht rezitierte, da bekam es Yemina mit der Angst zu tun.
Gelegentlich demonstriert sie noch. Insgesamt hat sie ihre Begeisterung jedoch verloren, im Gegensatz zu ihrem Freund. Das sorgt für Spannungen zwischen den beiden und steht sinnbildlich für den Zustand der tunesischen Gesellschaft.
"Wir alle sind gefordert"
Yemina-Anneli Ghediri: "Es wird ermüdend. Mir kommt es so vor, als ob das für viele nur noch ein Zeitvertreib ist, um coole Fotos von sich zu schießen. Wir kommen nicht voran und ständig fällt wegen der Demos hier an der Schule unser Unterricht aus. Am Ende sind es doch nur wieder wir, die den Kürzeren ziehen."
Abderrahim: "Das ist doch kein Argument! Sicherlich gab es nach dem 14. unglaublich viele Demos. Viele Dinge geschahen, die es in unserem Land nie gegeben hat. Der Mord an Brahmi und Chokri Belaid. Das war ein Schock. Es macht doch Sinn dagegen einzutreten und zu kämpfen. Wir alle sind gefordert, ob wir nun Studenten, Aktivisten oder Künstler sind. Jeder auf seinen Platz. Das ist unsere Pflicht."
Nach wochenlangen Protesten gegen Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Stagnation floh am 14. Januar 2011 Präsident Zine El Abidine Ben Ali nach Saudi Arabien. Er hatte Tunesien 23 Jahre lang autokratisch regiert. Nach seinem Sturz wurde eine Übergangsregierung gebildet. Die ließ Wahlen für eine Verfassungsgebende Versammlung abhalten. Klarer Sieger wurde mit rund 40 Prozent aller Stimmen die Ennahda-Bewegung, eine als gemäßigt islamisch angesehene Partei.
Ennahda bildete eine Koalition mit zwei kleineren säkularen Parteien. Aber zwei Jahre später ist ihre Arbeit an der Verfassung kaum fortgeschritten. Das Land steckt tief in der Krise. Der Rechtswissenschaftler Hamza Amor vom Arabischen Institut für Menschenrechte in Tunis bringt das Problem auf den Punkt:
"Es gibt in Tunesien zwei grundsätzlich verschiedene Gesellschaftsvorstellungen. Das sieht man schon in der Diskussion um den ersten Verfassungsartikel. Der sieht vor, dass Tunesien ein freier, unabhängiger Staat ist. Seine Regierungsform ist die Republik, seine Sprache Arabisch, seine Religion der Islam. Mit diesem Inhalt sind alle einverstanden, aber es gibt drei verschiedene Interpretationen. Die Gemäßigten sagen, der Artikel 1 bedeutet nur, dass die Mehrheit der Tunesier Muslime ist. Die Islamisten sagen, der Islam ist Staatsreligion und somit gilt die Scharia. Dann gibt es noch eine dritte Interpretation, die nicht von der Scharia spricht, aber sagt, der Staat soll den Islam fördern. Da Problem ist also: Zwischen den konservativen Visionen und der modernistischen zu versöhnen."
Von radikalen Salafisten distanziert
Zur Beilegung der Krise hat auch die regierende Ennahda-Partei zu wenig getan. Zwar erklärte sie, dass islamisches Recht keine Grundlage einer neuen Verfassung sein würde und distanzierte sich damit von radikalen Salafisten der Ansar al-Scharia, die zu tausenden für die Einführung der Scharia demonstrierten. Die Regierung stufte sie nach einer Reihe von Anschlägen sogar als Terror-Organisation ein. Jedoch ist die wachsende extremistische Bewegung sowie auch weite Teile des islamisch-konservativen Hinterlandes eine wichtige Stütze Ennahdas, auf deren Stimmen die Partei nicht verzichten kann, wenn sie weiterhin an der Macht bleiben will. Ennahda-Kritiker glauben, es deshalb mit einem Wolf im Schafspelz zu tun zu haben, der in Wahrheit doch die Einführung eines Gottesstaates will.
Ennahda hat ihren Sitz in einem Hochhaus, etwas außerhalb des Stadtzentrums von Tunis. Im Wartesaal der Regierungspartei läuft Al Jazeera auf Arabisch. Verschleierte Frauen scherzen mit Männern. In einem oberen Stockwerk hat Faycel Naceur sein Büro, ein Sprecher der Partei.
Faycel Naceur: "Wir definieren den Islam als Religion, die gekommen ist, um die Welt vor der Diktatur der Religionen und Ideologien zu retten. Der Islam ist gekommen, um die Menschen zu befreien. All jenen, die glauben wollen, ist gestattet zu glauben. Denjenigen, die nicht glauben wollen, ist es auch gestattet. Das gilt für alle Bereiche der Gesellschaft. Die Kleidungsweise zum Beispiel ist für uns etwas Persönliches. Es steht uns daher nicht zu, eine Frau dazu zu zwingen, den Schleier zu tragen, oder sie zu zwingen, zu glauben oder nicht zu glauben. Das Herz des Islams ist die Freiheit."
"Für uns bedeutet Scharia: Islam, Freiheit, Würde, Rechtsstaat"
Sichtlich bemüht, das Vertrauen in Ennahda herzustellen, antwortet der Parteisprecher langsam und ausführlich. Viel klarer wird das Profil seiner Partei dadurch nicht:
"Das Wort Scharia ist nicht eindeutig definiert. Für uns bedeutet Scharia: Islam, Freiheit, Würde, Rechtsstaat. Wir sehen den Islam nicht als Strafgesetzbuch, sondern als Wertesystem."
Naceur sagt, der Salafismus sei ein Problem, das wie viele andere in der Zeit Ben Alis entstanden sei. Ennahda will die von der Gesellschaft Entfremdeten im Dialog zur Gesellschaft zurückführen, wenn denn diese dazu auch bereit sind.
Faycel Naceur: "Wir haben 55 Jahre Diktatur und Korruption hinter uns. Es war ein Mafia-Regime, das die Gesellschaft zerrissen hat. Unsere Aufgabe ist es, Lösungen zu finden. Der Salafismus ist ein Phänomen aus der Zeit Ben Alis. Durch die Unterdrückung konnte die Jugend ihre Meinung nicht äußern und wurde radikalisiert. Diese Jugendlichen sehen nun Gewalt als Mittel zur Problemlösung an. Sie sind die Opfer der Diktatur von Ben Ali."
Opfer der Gewalt in Tunesien wurde Mohamed Brahmi. Unbekannte haben den Oppositionsführer vor einigen Monaten erschossen, vermutlich Salafisten. Seine Frau Mbarka erinnert sich an den schrecklichen Tag:
"Er schloss die Tür. Plötzlich hörte ich einen furchtbaren Lärm. Ich war sicher, dass Mohamed angegriffen wurde. Die Zahl der Schüsse, zunächst fielen drei, oder vier. Ta, ta, ta. Dann, tok, tok, tok, tok, tok. Meine Kinder schliefen. Ich war alleine."
Seiner Frau kommen nach wie vor die Tränen
Es war Ende Juli dieses Jahres, im Ramadan, als der Oppositionsführer Mohamed Brahmi das zweite Opfer eines politischen Mordes in Tunesien wurde. Kurz nach zehn am Morgen hatte er das Haus verlassen. Seine Frau Mbarka hat diese Momente schon oft erzählt. Die Tränen kommen ihr nach wie vor. Sie sitzt im Wohnzimmer, auf der Couch spielt eines der fünf Kinder. Das Mädchen ist behindert und Mbarka Brahmi, eine Grundschullehrerin, jetzt alleinerziehende Mutter:
"Er sagte nur noch, meine Kinder. Il Allah, il Allah. Er röchelte zweimal und bewegte sich noch ein bisschen im Auto. Das war's."
Die Witwe hat keinen Zweifel daran, wer ihren Mann auf dem Gewissen hat:
"Die Ennahda hat Mohamed getötet. Darauf bestehe ich. Ansar al-Scharia ist der Arm von Ennahda. Es gibt keinen Unterschied zwischen beiden."
Das Innenministerium gab später zu, von dem geplanten Anschlag informiert gewesen zu sein, etwaige Sicherheitsmaßnahmen jedoch versäumt zu haben. Nach dem Mord wurde ein Salafist verhaftet. Mit seinem Revolver, hieß es, wurde auch der Oppositionspolitiker Chokri Belaid ein paar Monate zuvor getötet.
Den Salafisten ist es mit ihren Anschlägen gelungen, die tunesische Gesellschaft tief zu verunsichern. Dazu steigt die Arbeitslosigkeit, die Investoren bleiben fern und politisch ist das Land praktisch führungslos.
Keine Einigung auf künftigen Premier
Die wochenlangen Gespräche über eine Übergangsregierung sind kürzlich abermals gescheitert. Regierung und Opposition konnten sich nicht auf einen künftigen Premier einigen. Was jetzt? Auch wenn Tunesiens Militär anders als das in Ägypten kein Staat im Staate ist, blicken viele Tunesier sehr besorgt zum großen arabischen Bruder.
Vor ein paar Tage sprengte sich ein Selbstmordattentäter vor einem Ferienhotel in Sousse in die Luft. Durch diese Gewalt und den Stillstand wünscht sich eine wachsende Zahl der Tunesier Ben Ali zurück.
Belgacem Sablaoui ist Gemüseverkäufer. Besonders stolz darauf, dass es ein Mann seiner Zunft war, der mit seiner Selbst-Verbrennung die Revolution auslöste, ist er nicht. Sablaoui ist 50 Jahre alt und verkauft seit mehr als der Hälfte davon Gemüse an der Medina, Tunis Altstadt. An guten Tagen macht er knapp 20 Euro, an schlechten weniger. Die schlechten Tage häufen sich. Kein einfaches Leben, sagt er. Er hat eine Frau und vier Kinder. Seit der Revolution sei das Leben teurer geworden:
"Vor der Revolution war alles günstiger. Kartoffeln zum Beispiel. Da kostete das Kilo nun dreimal so viel. Vor der Revolution waren es nur 600 Millimes."
Sablaoui sagt, auch die Sicherheit sei ein großes Problem. Nachts könne man nicht mehr allein auf die Straße gehen. Und dann ist da noch der Müll.
In den engen Straßen der Medina türmen sich Berge leerer Plastikflaschen. Schafsköpfe, Knochen, trockene Brote, altes Couscous. Streunende Katzen haben den Mülldienst ersetzt. In diese Altstadtgassen der Hauptstadt reicht der tunesische Staat schon lange nicht mehr.
"Wir haben den Glauben an den Staat verloren"
Feierabend. Unter einem Tor am Ausgang der Medina raucht ein Polizist mit anderen Männern Wasserpfeife. Seinen Namen will er nicht nennen:
"Seitdem die Revolution vorbei ist, schert sich doch keiner mehr um Politik. Wir haben den Glauben an den Staat verloren. Vorher war alles besser."
Ein anderer Tag, ein paar Kilometer von der Medina entfernt. Der Bardo-Palast diente einst dem Herrscher von Tunis, Muhammad III., als Harem. Heute tagt hier die Verfassungsgebende Versammlung. Während die Abgeordneten auf gepolsterten Stühlen aus grünem Leder debattieren, filmen oben auf den Rängen ein paar junge Leute im Schlabberlook das Geschehen unten im Saal. Sie gehören zu Marsad, einer Internetplattform, die die Arbeit der Versammlung dokumentiert. Die Projektleiterin ist die prominente Bloggerin Amira Yahyaoui:
"Nach den Wahlen am 23. Oktober haben wir zu den neuen Machthabern ein Gegengewicht gebildet, einen Watchdog der Versammlung. Leider müssen wir sowohl die Kontrollfunktion der Opposition ausführen, als auch Aufgaben der Regierung. Wir sind es, die Wahlergebnisse von Abstimmungen im Parlament veröffentlichen oder offizielle Dokumente. Die würden sonst nicht veröffentlicht."
Projektleiterin Yahyaoui ist sich bewusst, dass mit der Aufgabe viel Verantwortung, und auch Risiken kommen. Ein Wikileaks, das für neues Chaos in Tunesien sorgt, will man nicht werden.
Amira Yahyaoui: "Es kommt vor, dass uns Leute gewisse Dokumente zuspielen, die nichts mit der Förderung von Transparenz zu tun haben. Zum Beispiel berichten mir in Flugzeugen die Hostessen und Stewards von den Privatflügen der tunesischen Abgeordneten. Das ist eine klare Übertretung ins Privatleben. Solche Dinge dürfen wir nicht bekannt geben. Aber manchmal sind wir machtlos – dann finden solche Informationen ihren Weg über Zeitungen und Facebook an die Öffentlichkeit."
Die Schwachen sind kaum noch politisch aktiv
Die adrette 28-Jährige konnte erst nach dem Sturz Ben Alis zurück nach Tunesien. Ihr Vater war ein berühmter Richter, der Ben Ali die Stirn bot. Wegen seines Engagements verpasste man Amira trotz exzellenter Leistungen auf dem Zeugnis miserable Noten und riet ihr Viehzucht zu studieren. Die Familie verstand die Botschaft. Amira ging zum Studium ins Exil nach Frankreich. Heute lebt sie in einem großen, extravagant eingerichteten Strandapartment mit Balkonblick aufs Meer in einem reichen Vorort von Tunis.
Es sind vor allem die Eliten und gut ausgebildeten Tunesier, die noch politisch aktiv sind. Beim Rest der Gesellschaft verpufft der Enthusiasmus oder er ist es schon, vor allem bei den Schwachen, die die Erfolge der Revolution in ihrem Alltag nicht sehen.
Zurück zum Schauspieler-Pärchen Abderrahim und Yemina. Beide planen ihre Zukunft in Tunesien. Nach dem Studium wollen sie sich verloben. Abderrahim geht bald auf eine Theatertournee durch Europa und Amerika. Yemina hofft, dass das viel Druck von ihm nimmt und ihm den Blick für Neues öffnet:
"In der Geschichte der Welt mussten doch alle Revolutionen Opfer bringen. Sei es, ob die Völker mit ihrem Leben bezahlten oder mit Geld. Ein Beispiel ist die Französische Revolution, die ihr Ziel erst 100 Jahre später erreichte. Wir müssen durchhalten, wir müssen kämpfen, wir dürfen nicht locker lassen, wenn wir unser Ziel erreichen wollen."
Yemina stimmt zu: Freiheit hat ihren Preis. Genau, sagt Abderrahim und wiederholt, was seine Freundin geflüstert hat:
"Il faut payer le prix. Il y a un prix à donner pour avoir sa liberté."
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