Nach dem Anschlag, vor dem Umbau

"Le Grand Paris" wird rundum erneuert

Pariser Banlieue: Blick auf den Vorort Gennevilliers
Blick auf den Vorort Gennevilliers - die Pariser Banlieue soll verkehrstechnisch besser angebunden werden. © picture alliance / dpa / Robert B. Fishman ecomedia
Von Stefanie Otto · 16.02.2015
Es könnte das kühnste stadtplanerische Vorhaben in der französischen Geschichte werden: eine Million neue Bäume, 70.000 Wohnungen jährlich, Modernisierung des Nahverkehrs, Arbeitsplätze und Kulturangebote. Aber dafür ist noch viel zu tun.
Ein Eckcafé am Boulevard Bessières, an der Porte de Clichy am Nordwestrand von Paris. Morgens um 8 Uhr ist an der Theke viel Betrieb. Bevor es zur Arbeit geht trinken viele hier ihren ersten "Café" im Stehen. Für die Arbeiter von der Baustelle gegenüber ist es schon die erste Pause. Hinter der Theke hat Betreiber Luc Ferron alle Hände voll zu tun. Zwischen Kaffeemaschine und Geschirrspüler findet er dennoch Zeit um mit seinen Kunden zu diskutieren: zum Beispiel über den Anschlag auf Charlie Hebdo, der Paris im letzten Monat erschütterte. Oder über das Projekt Grand Paris, das bis 2030 das Leben der Hauptstadt umkrempeln soll.
"Ich wohne in der Banlieue. Aber in Zukunft werden wir alle Pariser sein. Hier in der Gegend glauben viele, dass das große Veränderungen mit sich bringen wird. Eine neue Bevölkerung wird sich in der Banlieue ansiedeln. Und wo bisher immer zwischen Paris und Banlieue getrennt wurde, wird es mehr geben."
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich noch vor kurzem ein kleiner Park. Jetzt ist das Gelände mit blickdichten Zäunen abgesperrt und riesige Maschinen bohren Löcher in den Untergrund. Hier wird an der Verlängerung der Metrolinie 14 in nördlicher Richtung gebaut. Sie soll die Linie 13 entlasten.
"Die Linie 13 ist wirklich die schlimmste. Immer gibt es Probleme. Ständig ist sie überfüllt. Nie findet man einen Sitzplatz. Was den Nahverkehr angeht soll hier in Zukunft alles schneller und einfacher werden. Das ist wirklich eine gute Sache."

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Hier wird die neue Metro-Station Porte de Clichy gebaut.© Deutschlandradio / Stefanie Otto
Strukturreform des Ballungsraums
Vor kurzem wurde bekannt, dass sich die Fertigstellung um zwei Jahre verzögern wird. Der Betreiber des "Café Industrie" nimmt es mit Gelassenheit. Immerhin würde in Paris immer irgendwo gebaut und eine Wahl habe er sowieso nicht. Doch hier wird nicht nur an einer Metrolinie gebaut. Mit dem Mega-Projekt "Grand Paris" steht Frankreich gerade am Beginn einer Strukturreform des gesamten Ballungsraums seiner Hauptstadt. Zwei Metrolinien werden in Nord-Süd-Richtung verlängert. Ab 2020 soll eine komplett neue Ringlinie, der Grand Paris Express, die Stadt im Abstand von fünf Kilometern umrunden und so die Vororte der Metropole besser miteinander vernetzen. Bisher führte kein Weg am Zentrum vorbei.
Auch an der Station "Porte de Paris" im Vorort Saint-Denis soll die neue Ringbahn halten, wo bisher nur die stets überlastete Linie 13 fährt. In Sichtweite des größten Stadions in Frankreich entsteht hier am nördlichen Rand von Paris ein ganz neuer Stadtteil. Früher standen hier Lagerhallen und heruntergekommene Altbauten. Jetzt zieht es die Pariser zum Wohnen hierher - ein Effekt von "Grand Paris". Schule und Kindergarten sind schon fertig. Zwischen den modernen Häusern in Holz und bunten Farben, ist in der Rue Pinel auch ein Wohnheim für ausländische Arbeiter eingezogen.
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Blick über ein Feld Richtung Paris, im Hintergrund die Sacré-Coeur.© Deutschlandradio / Stefanie Otto
Elf leuchtend weiße Wohnwürfel sind da wie Bausteine aneinandergereiht. Die massiven Fensterläden aus grauem Metall erscheinen an diesem Novembertag überflüssig. Zwischen den dreistöckigen Häusern ist eine Art Innenhof angelegt, auf dem sich die 200 Bewohner oft in kleinen Gruppen treffen.
Boubou Soumaré kennt ihre Wünsche und Sorgen, denn er ist Sprecher des Wohnheims und in der zweiten Generation hier.
"Hier in Saint-Denis hat sich wirklich viel getan. Die Porte de Paris und die Rue Pinel kannte ich schon aus den Erzählungen meines Vaters. Er wohnte auch hier, im alten Heim, das dann abgerissen wurde. Heute sieht hier alles ganz anders aus. Das letzte Mal im Urlaub habe ich meinem Vater gesagt: Wenn du heute nach Porte de Paris kommst, wirst du dich nicht wiederfinden.’"
Boubou Soumaré lebt seit über zehn Jahren in Frankreich. Der Mauretanier kam nach Saint-Denis weil hier schon ein Großteil seiner Familie lebt. Seit 2010 ist der Mittdreißiger nicht nur Sprecher seines eigenen Wohnheims, sondern vertritt noch weitere Arbeiterheime in den umliegenden Gemeinden und organisiert Kulturveranstaltungen. Im neuen Foyer Pinel haben die Bewohner nun jeder ein eigenes Zimmer mit Kochecke und Bad. Doch so richtig glücklich macht sie das nicht. Vor einer Woche ist die Heizung ausgefallen.
"In einem der Häuser ist jetzt auch noch der Strom ausgefallen. Im ganzen Haus und wir wissen nicht warum. Mitten im Winter haben wir keinen Strom, kein Warmwasser, keine Heizung seit einer Woche. Und es ist noch nicht vorbei. Das ist unglaublich! Jeder braucht doch jetzt eine Heizung."
Im neuen Heim ankommen
Die Heimverwaltung weiß Bescheid, doch bisher hat sich nichts getan. Generell hat Boubou Soumaré noch viel zu tun bis sich seine Mitbewohner im neuen Heim wohlfühlen können. Sie wünschen sich einen Gemeinschaftsraum, nicht nur zum Beten, sondern auch für die Versammlungen ihrer Vereine, die sie für ihre Heimatorte in Mali, Senegal oder Mauretanien gegründet haben. Mit ihrem kleinen Verdienst finanzieren sie zu Hause den Bau von Schulen und Straßen und wollen deshalb auch hier als gleichwertig respektiert werden.
"Die Arbeiterheime der Sechziger Jahre haben ein schlechtes Image hinterlassen. Damals waren die Gastarbeiter nur für kurze Zeit hier, immer wenn es Bedarf gab. Aber heute ist das nicht mehr so. Die heute hier sind, bleiben bis zur Rente. Also kann man sie nicht als Durchreisende betrachten. Unser Status ist jedoch immer noch der alte. Ich finde das rassistisch! Und niemand kontrolliert, was die Betreiber hier in den Heimen für Regeln aufstellen. Wir zahlen 400 Euro Miete, genau wie andere in einer Sozialwohnung. Die dürfen Gäste beherbergen, haben eine eigene Adresse und können damit ein Bankkonto eröffnen. Wir haben diese Rechte nicht!"
Nicht nur in den Wohnheimen der afrikanischen Arbeiter gibt es diesen Rassismus noch. Auch in anderen Teilen der Pariser Vororte haben gerade die Terroranschläge vom Januar neue Ängste geschürt und alte Vorurteile gegenüber Migranten bestärkt. Diese Abgründe werden es schwer machen, soziale Unterschiede und Missstände auszugleichen und die Banlieue in attraktive Wohngebiete des Grand Paris umzuwandeln. Auf eine der Sozialwohnungen zum Beispiel wartet Boubou Soumaré schon ewig.
"Das Ministerium für Wohnraum verspricht jedes Jahr neue Sozialwohnungen zu bauen. Aber es gibt nie welche. Es gibt immer nur Büros. Ich habe meinen Antrag 2005 gestellt. Aber bis heute kam kein einziger Vorschlag. Das ist hier ein großes Problem. Deshalb leben die Leute im Wohnheim. Nicht weil sie hier gern bleiben möchten. Nein, sie haben einfach keine andere Möglichkeit."
Zehn solcher Wohnheime gibt es allein in der Gemeinde Saint-Denis, 700 sind es in Frankreich. Und freie Plätze sind trotz unwirtlicher Zustände stark begehrt. In Sachen Wohnraum hat der Großraum Paris schon lange ein Problem. Die überteuerten Mieten sind weithin bekannt. Menschen mit kleinem Budget mussten bisher immer in heruntergekommene Hochhäuser am Rand der Stadt ausweichen. Die sogenannten Cités sind meist in den sechziger Jahren entstanden und längst sanierungsbedürftig. Dort brachen im Oktober 2005 auch die gewalttätigen Unruhen aus, nachdem zwei Jugendliche aus Immigrantenfamilien durch einen Unfall starben. Nun werden diese Wohnsiedlungen nach und nach renoviert oder abgerissen.
"Ich wohne in Bobigny. Dort sind sie schon dabei, viele schöne aber auch teure Wohnungen zu bauen - ganz in der Nähe des zukünftigen Bahnhofs. Überhaupt wird hier in den Vororten besonders da gebaut, wo später ein Bahnhof hinkommt."
Inés El Laboudy sitzt im Regionalzug nach Bondy auf dem Weg zur Redaktionskonferenz. Die Studentin ist in der Banlieue aufgewachsen und schreibt in ihrer Freizeit für den BondyBlog, eine Plattform die während der Unruhen 2005 ins Leben gerufen wurde. Ines und ihre Kollegen kommen aus ganz verschiedenen Teilen des Pariser Umlands und beschreiben Probleme und Alltägliches aus der Perspektive der Vororte. Das Vorhaben Grand Paris ist für viele ihrer Bekannten und Freunde noch viel zu abstrakt. Unter der anstehenden Auflösung der Departments und der Gründung einer Metropolregion können sich die meisten nichts vorstellen.
"In den Köpfen der Leute ist Grand Paris eine Bahnlinie, die alle Banlieues miteinander verbinden wird ohne durchs Zentrum zu fahren. Sie wissen nicht, dass diese Linie auch dazu dienen soll den Austausch zwischen Paris und Banlieue zu stärken. Denn bald werden wir alle zusammengehören. Da gibt es viel Verwirrung und wenn man Grand Paris sagt, denken alle nur an den Nahverkehr."
Anbindung an die Ringlinie
Auch im äußersten Nordosten der Stadt, zwischen den Flughäfen Charles-de-Gaulle und Le Bourget freut sich die Gemeinde Gonesse auf die Anbindung an die Ringlinie. Doch anders als in den dicht besiedelten Wohngebieten am Stadtrand, wird der Bahnhof mitten auf einem Feld stehen. Das Feld von Dominique Plet.
"Ich baue Weizen an, Mais und Raps. Der Boden ist hier so gut, dass man die Pflanzen nicht bewässern und auch nicht entwässern muss. Die Erde speichert gerade genug Feuchtigkeit. Wenn man es richtig macht, kann man hier sehr hohe Erträge erzielen. Beim Mais haben wir dieses Jahr mehr als elf Tonnen pro Hektar geerntet. Das ist mehr als der Durchschnitt in Frankreich."
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Dominique Plet blickt auf Paris.© Deutschlandradio / Stefanie Otto
Dominique Plet ist Landwirt in der vierten Generation und schaut besorgt über seine Felder. Aus Erzählungen weiß der Mittfünfziger, dass es in Gonesse früher nur Bauernhöfe gab. Heute sind in der 20000-Seelen-Gemeinde gerade noch zehn Familien in der Landwirtschaft tätig. Das Stück Land, auf dem sie meist Getreide anbauen, liegt eingezwängt zwischen zwei Flughäfen, Einkaufszentren und einer verlassenen Fertigungshalle von Citroen. Die Warenhauskette Auchan plant auf einem Areal größer als der Berliner Tiergarten nicht nur ein weiteres Einkaufszentrum, sondern auch einen Freizeitpark mit Spaßbad und Skipiste - genannt EuropaCity. Ein Drittel dieser Fläche gehört Dominique Plet.
"Für Europa City sollen hier 500 Geschäfte gebaut werden. Das wäre nicht so schlimm, wenn es nicht ringsherum schon so viele gäbe. Aber genau da gegenüber liegt das Einkaufszentrum "Paris Nord" mit 200 Geschäften. Außerdem sind wir ein Sauerstoff-Speicher für Paris. Also mir als Landwirt gibt das einen Stich ins Herz, mitanzusehen wie so außergewöhnliche Felder einfach betoniert werden sollen. Danach ist alles vorbei. Das kann man nie wieder rückgängig machen."
Erst die Pläne für EuropaCity haben bewirkt, dass der Grand Paris Express in Gonesse halten wird. Und so dreht sich auch bei der öffentlichen Infoveranstaltung zum neuen Bahnhof alles nur um das umstrittene Großvorhaben.
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Bürgerreform zum Grand Paris Express.© Deutschlandradio / Stefanie Otto
Sozial gesehen nicht akzeptabel
Im Veranstaltungssaal von Gonesse heizen sich die Gemüter auf. Etwa 200 Personen sind heute Abend gekommen. Doch vor allem die älteren Bewohner von Gonesse wollen die Präsentation des Veranstalters nicht unkommentiert lassen. Unter ihnen ist auch Bernard Loup.
"Allein was die Raumplanung angeht, ist das nicht akzeptabel. Und sozial gesehen auch nicht. Immerhin gibt es hier dringende soziale Probleme. Vor ein paar Jahren wollten sie auf den Feldern eine Formel 1-Strecke errichten. Jetzt noch so ein Projekt, das keinen Mehrwert für die Gemeinde hat. Sie bringen die Jugendlichen zum Träumen. Doch kaum jemand aus der Gegend wird dort eingestellt werden. Es ist ein Skandal, dass die Vertreter der Gemeinde die Nöte der Einwohner so missbrauchen um ihre Vorhaben durchzubringen."
Bauer Plet kann die ganze Aufregung um das Projekt Grand Paris und die Folgen nicht nachvollziehen. Er interessiert sich weder für Einkaufsmöglichkeiten noch für eine schnellere Metroanbindung ins Zentrum. Sorgen macht er sich jedoch um die zukünftigen Generationen.
"Es würde mir wirklich im Herzen weh tun, wenn ich das Land verliere. Für mich in meinem Alter ist es nicht so tragisch, aber für meinen Sohn. Er ist 21 und liebt die Landwirtschaft. Wir haben nicht genug Geld, um woanders einen neuen Hof zu eröffnen. Und hier geht uns langsam das Land aus um satt zu werden. Das ist unser Problem. Und was wird in 30, 40 Jahren übrig bleiben? Nur noch H&Ms, Straßen und Einkaufszentren? Das kann nicht sein!"

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Dominique Plet steht vor einem Lager in Gonesse.© Deutschlandradio / Stefanie Otto