N. MacGregor: "Erinnerungen einer Nation"

Deutsche Geschichte im Schnelldurchlauf

Der Münchner Stadtteil Schwabing mit dem Siegestor an der Leopoldstraße 1958. Deutschland München Altstadt Bohème, Schickeria
Mit einer Darstellung des Münchener Siegestores beginnt Neil MacGregor sein Buch. © imago/Gerhard Leber
Von Jürgen König · 18.09.2015
Mit dem Buch "Deutschland: Erinnerungen einer Nation" hat der künftige Intendant des Berliner Humboldtforums, Neil MacGregor, ein Kompendium der deutschen Geschichte herausgebracht. Die Lektüre ist auch für Laien aufschlussreich - und macht neugierig aufs eigene Land.
Dieses Buch ging aus einer Ausstellung des British Museum hervor, "Germany – memories of a nation", gezeigt 2014/15. Es wurde von seinem schottischen Direktor Neil MacGregor für Briten geschrieben, damit sie uns Deutsche besser verstehen. Doch auch der deutsche Leser reibt sich mit erkenntnisreichem Staunen die Augen.
"Deutschlands Denkmale sind anders als die anderer Länder." Mit einer Darstellung des Münchener Siegestores beginnt Neil MacGregor sein Buch: Ein Triumphbogen, in den 1840er-Jahren errichtet und vergleichbaren Bauten in London oder Paris nicht unverwandt, ist es auf der Nordseite "dem bayerischen Heere" gewidmet. In schnörkellosen Sätzen beschreibt MacGregor den "peinlichen Umstand", dass ebendieses "bayerische Heer" während der Napoleonischen Kriege "die meiste Zeit an der Seite Frankreichs gegen andere deutschen Staaten kämpfte". Im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt, wurde der Bau restauriert und auf der Südseite mit der Inschrift versehen "Dem Sieg geweiht. Vom Krieg zerstört. Zum Frieden mahnend". Dadurch wird das Münchener Siegestor für den Autor "ein zweifach zweideutiges Denkmal: Ein nicht triumphaler Triumphbogen, der an Niederlagen ebenso erinnert wie an Siege und überdies an die unbequeme Tatsache, dass die Gegner der bayerischen Soldaten ebenso gut Deutsche sein konnten wie Nichtdeutsche".
Dieser Auftakt des Buches markiert seinen Kerngedanken: Anders als in jahrhundertelang gewachsenen Zentralstaaten wie Großbritannien oder Frankreich existiert für das über Jahrhunderte zersplitterte Deutschland "keine einheitliche nationale Erzählung", sie setzt sich zusammen aus vielen "manchmal gegensätzlichen lokalen Erzählungen", die auf unterschiedliche Weise bis heute fortwirken. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg, das Scheitern der Weimarer Republik und die mörderische Politik des Dritten Reiches hatten eine einheitliche "Geschichtserzählung" dann vollends unmöglich gemacht - "so tief beschädigt" sei die deutsche Geschichte, dass sie sich "nicht reparieren lässt", sondern "immer wieder von neuem" betrachtet werden müsse.
Aus einzelnen Bildern ergeben sich Facetten der Geschichte
Neu ist dieser Gedanken wahrlich nicht. Aber was der Museumsmann Neil MacGregor daraus macht, ist als Verfahren neu: ein Buch, das deutsche Geschichte fragmentarisch begreift und lebendig werden lässt durch Anschauung von Objekten und "Erinnerungsstücken", die die deutschen Landschaften, Städte, Wohnungen heute noch prägen oder im kollektiven Gedächtnis der Deutschen lebendig geblieben sind. Gutenbergs Buchdruck, Luthers Bibelübersetzung, Bierseidel und Wurst, die 1848er-Revolution, die Ehrengalerie der Walhalla, in die erst 1991 (!) mit Albert Einstein der erste Jude aufgenommen wurde. Die Avantgarde des Bauhauses, das Tor des KZs Buchenwald mit seinem Schriftzug "Jedem das Seine", entworfen vom Bauhaus-Künstler Franz Ehrlich. Die Hyperinflation der 1920er-Jahre, die Bücherverbrennung, die Kulturpolitik der Nationalsozialisten, die Denkmale der Käthe Kollwitz, die vom Band rollenden Käfer der "Wirtschaftswunderjahre". Der Deutschen Liebe zum Wald, zum Eisen, zur Technik. Aus einzelnen Bildern ergeben sich Facetten deutscher Geschichte.
Eindrucksvoll ist diese Methode: etwa wenn er die deutsche Teilung durch ein Modell des Berliner Bahnhofs Friedrichstraße charakterisiert. Das Dach fehlt, so wird der Aufbau jener Grenzübergangsstelle sichtbar, die als "Tränenpalast" berühmt wurde. Dazu heißt es: "Das Ganze ist ein kompliziertes Labyrinth aus Leitplanken und Wänden, Richtungswechseln, Raumwechseln, hoch hängenden Spiegeln und Nebenräumen für Einzelbefragungen. Überall standen die Reisenden unter Beobachtung, verwirrt, wohin es nun ging, ungewiss, was der nächste Raum brachte oder wann das Verfahren ein Ende finden würde. Das Ganze ist als Anlage zur Desorientierung nur schwer zu überbieten und als Verfahren zur Beobachtung von Menschen unter Stress und Angst wohl nie übertroffen worden. Wir haben es mit einem Überwachungsstaat der Spitzenklasse zu tun. Wer einmal den Weg durch diesen Bahnhof nehmen musste, hat diese Erfahrung nie vergessen." Das ist nicht nur für Briten eindrucksvolle Lektüre.
Wie schwer verständlich einem Nichtdeutschen manches an unserer Geschichte vorkommen mag, zieht sich wie ein roter Faden durchs Buch. Dass Deutschlands "geistige, religiöse und kulturelle Grenzen (über Jahrhunderte) nicht mit den politischen Grenzen korrespondierten", sei Briten "unbegreiflich". Das Heilige Römische Reich deutscher Nation: ein "politisches Gebilde aus vielen Teilen, aus Elementen eines schwer fassbaren Ganzen, das nicht zusammengehalten wurde durch militärischen Zwang, sondern durch ein Netz gemeinsamer Auffassungen und Traditionen, die den Rahmen setzten." Auch über die fortlebenden Traditionen gerät Neil Mac Gregor ins Staunen: Warum gibt es heute noch deutsche "Hansestädte", sogar in den Nummernschildern leben sie - obwohl die Hanse schon lange nicht mehr existiert?
"Deutschland - Erinnerungen einer Nation" - ein Text- und Bilderbuch deutscher Geschichte, das für Fachleute genug zum Denken bereithält und doch auch für Laien interessant und aufschlussreich ist, gute Fragen aufwirft: neugierig macht aufs eigene Land.
Neil MacGregor: Deutschland - Erinnerungen einer Nation
C.H.Beck, München 2015
640 Seiten, 39,95 Euro
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