Mythos schon zu Lebzeiten

Von Sabine Mann · 30.05.2006
Vor 575 Jahren wurde Jeanne d’Arc im Verlauf des 100-jährigen Krieges von den Engländern als Hexe und Ketzerin verbrannt. Die Bewohner der von ihr befreiten Städte gingen nach ihrem Tod zu ihrem Seelenheil auf Wallfahrt. Denn ein Mythos war das blutjunge Bauernmädchen aus Lothringen in der Rüstung der siegreichen Heerführerin schon zu Lebzeiten.
"Bischof, ich sterbe durch Euch. So ist alles richtig. Meine Stimmen haben nicht gelogen, ich werde hoch siegreich befreit. Jesus!"

Wie viele vor und nach ihr spricht Robert Bressons Film-Jeanne d’Arc vor ihren Richtern mit den Worten der echten französischen Nationalheldin. Erstaunlich selbstbewusst, unbeirrt. Trotz ihrer erst 19 Jahre:

"Ich werde die Wahrheit sagen, aber nicht alles. Ich bin von Gott gesandt, ich habe hier nichts zu schaffen. Und bitte, dass man mich zu Gott zurückschickt. Hütet Euch, denn Ihr begebt Euch in große Gefahr."

"Jeanne hat ein Charisma und sie hat Autorität, fürchterliche Autorität. Aber sie ist auch sehr herrisch. Wie die mit ihren Richtern umgeht, in dieser Situation! Gefesselt, krank, auch noch verletzt! Und ein fabulöses Gedächtnis! Eine Führerin, ohne weiteres, aber Führer, das sieht man immer wieder, neigen auch zum Hochmut – und sie hat dieses."

Im Angesicht der goldstrotzenden Jeanne d’Arc-Statue am Pariser Tuileriengarten findet der Historiker Gerd Krumeich, einer ihrer besten Kenner, die Wiederentdeckung der Jungfrau von Orléans als Nationalheldin im 19. Jahrhundert durchaus folgerichtig:

"Grundsätzlich gibt es ja keinen Menschen des Mittelalters über den mehr direkte schriftliche Quellen da sind, den Sie sprechen hören, von dem Sie kein Bild haben, den sie aber ständig bildlich vor sich haben, dessen Taten Sie genau eruieren können. Also, da gab esw schon genug Möglichkeiten für romantische Identifikation, und das 19. Jahrhundert war national, bevor es nationalistisch wurde. Und das nationale 19. Jahrhundert entdeckt massiv, überall, nicht nur in Frankreich, Jeanne d’Arc wieder, überall."

Das etwa 17-jährige fromme Mädchen, das plötzlich Stimmen hört und dem französischen König deshalb im Krieg gegen England mit Waffengeklirr zu Hilfe eilen muss, hat dem gaullistischen Politiker Edouard Balladur zufolge nüchterne Militärs beflügelt:

"Unter all denen, die sich auf sie berufen haben, darf man de Gaulle nicht vergessen. Schließlich bezieht sich das Lothringer Kreuz auf Jeanne d’Arc. De Gaulle ist auch das letzte Beispiel für die Zuflucht zur Figur der Jungfrau von Orléans in einer großen nationalen Krisensituation."

Und in seinem unnachahmlichen lyrischen Duktus erzählte Kulturminister André Malraux auf einem der traditionellen Jeanne-d’Arc-Feste in Orléans :

"Bei der Einweihung von Brasilia 1960 stellten Kinder ein paar Episoden der Geschichte Frankreichs nach. Es erschien eine 15-jährige Jeanne d’Arc auf einem hübschen Scheiterhaufen aus bengalischem Feuer mit Banner, großem Trikolore-Schild und Jakobinermütze. Angesichts dieser kleinen Republikanerin stellte ich mir das gerührte Lächeln eines Michelet oder Victor Hugo vor. Frankreich wurde hier von Jeanne und der Republik in einer Person repräsentiert, denn beide verkörpern den ewigen Ruf nach Gerechtigkeit."

In den letzten Jahren missbraucht in Frankreich die extreme Rechte um Jean-Marie Le Pen die Nationalheldin. Aber das kann dem jungen Mädchen mit dem großen Schicksal nichts anhaben. Schließlich hat sie schon in ihrem Prozess alle Fangfragen pariert. Ob sie denn der göttlichen Gnade teilhaftig sei? Jeannes Entgegnung wurde zum geflügelten Wort: Wenn nicht, möge Gott sie mir geben – wenn ja, möge Gott sie mir erhalten.