Mythos Langemarck entzaubert

Von Adolf Stock · 02.05.2006
Im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft wurde das Berliner Olympiastadion umgebaut. Es gehört zum denkmalgeschützten Ensemble der Olympiabauten aus der Zeit des Nationalsozialismus. Restauriert wird bis zur Fußballweltmeisterschaft auch der Glockenturm mit der Langemarck-Halle.
Dort wird die Schlacht bei Langemarck in Flandern glorifiziert, in der im November 1914 rund 2000 jugendliche Rekruten den Tod fanden. Wie geht man mit diesem architekturhistorischen Erbe heutzutage um? Die Antwort soll eine Dauerausstellung im restaurierten Glockenturm geben, welche die ideologische Verführbarkeit der Jugend durch den Sport thematisiert.

Der kleine Ort Langemarck liegt in der belgischen Provinz Westflandern. Im Herbst 1914 sind dort 80.000 Soldaten gefallen, als sich die deutschen Truppen bis zum Meer vorkämpfen wollten. Am 10. November waren die Verluste besonders hoch; damals wurde eine schlecht ausgerüstete deutsche Reservearmee – unter ihnen auch Studenten, Schüler und Lehrer – in einen aussichtslosen Kampf geschickt. Nach dem Gemetzel ließ die Oberste Heeresleitung Folgendes verkünden:

"Westlich von Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange 'Deutschland, Deutschland über alles' gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie."

Die vernichtende Niederlage wurde zu einem heroischen Sieg der deutschen Jugend umgedeutet. Es war der Beginn eines Mythos. Reinhard Appel, einst Chefredakteur des ZDF, erinnert sich noch sehr genau an den Kult um Langemarck.

"In jedem Jahr wurden Langemarck-Feiern veranstaltet, um an jene jungen Kriegsfreiwilligen des Ersten Weltkrieges zu erinnern, die in offner Haltung ins Maschinengewehrfeuer gestürmt sind und den Opfertod erlitten haben, todesverachtend. Und das sollten unsere Vorbilder sein: Auch wenn uns Mehrheiten, überwältigende Mehrheiten, gegenüberstehen, den Opfertod nicht zu scheuen, denn Opfertod ist Heldentod."

Während der Weimarer Republik wurde der Langemarck-Mythos von deutsch-nationalen Kreisen gepflegt, um den verlorenen gegangenen Krieg doch noch mit Stolz und Selbstachtung betrachten zu können. Dabei nahm man in Kauf, die Geschichte zurechtzubiegen, sagt Rainer Rother vom Deutschen Historischen Museum, der die geplante Dokumentation über den NS-Sport und die Langemarck-Halle auf dem Olympia-Gelände betreut.

"Für die Nationalsozialisten war das zunächst ein sehr störrischer Mythos, weil es ein sehr elitärer Mythos war, der von der Studentenschaft gepflegt wurde. Und der wurde dann Zug um Zug umgewidmet, der wurde in die Obhut der Hitlerjugend gegeben und damit schon erstmal des Akademischen entkleidet, und dann ging es auch um eine Entmystifizierung, dass es nur Studenten waren. Es gab dann auch plötzlich den Hinweis, dass auch Handwerker und Arbeiter dabei waren. Es blieb aber immer ein Jugendmythos, was faktisch völlig falsch ist, weil nur ein ganz kleiner Teil, sagen wir 20 Prozent, Jugendliche waren von den Kämpfern und dann auch Gefallenen von Langemarck."

"Der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler eröffnet die elften Olympischen Spiele 1936 im Olympia-Stadion."

Am 1. August wurden in Berlin die Olympischen Spiele eröffnet. Den Zuschlag hatte Berlin schon im Mai 1931 bekommen, als es in Deutschland noch eine demokratische Regierung gab, berichtet der Hamburger Architekt Volkwin Marg, der das Olympia-Stadion für die Fußballweltmeisterschaft 2006 restauriert und umgebaut hat.

"Nach dem Ersten Weltkrieg war Deutschland so diffamiert durch die Kriegsschuldfrage, dass Deutschland nicht zugelassen war zu den ersten Olympischen Spielen nach dem Krieg. Das hat sich dann in Amsterdam allmählich gelegt bei den nächsten Spielen. Und dann hat die Weimarer Republik den Zuschlag gekriegt, und im Hinblick auf die Wirtschaftskrise war ja wenig Chance, riesenhaft zu investieren. Man wollte das Deutsche Stadion vom alten Otto March nur umbauen durch seine Söhne, durch die Gebrüder March junior."

Otto March hatte im Grunewald das Deutsche Stadion für die 1916 geplanten Olympischen Spiele gebaut. Leider traf sich die Jugend der Welt dann nicht in Berlin, sondern auf den Schlachtfeldern in Verdun und an der Somme.

Für die Spiele 1936 sollte das Deutsche Stadion von Otto Marchs Söhnen Walter und Werner March modernisiert werden. Nach der Weltwirtschaftkrise waren die Staatskassen leer, und die Weimarer Republik hatte kein Geld für aufwändige Neubauten. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, schlug die Stunde der Propagandisten, Adolf Hitler hatte für Olympia jetzt ganz andere Pläne.

"Im Sommer 1933 zitierte er Werner March – der war flugs als geschmeidiger Opportunist in die NSDAP eingetreten – und sagte: Das reicht nicht, das wäre der Auftritt des Nationalsozialismus, das müsse neu inszeniert werden."

Werner March plante neu. Es entstand das Reichssportfeld-Gelände, ein riesenhaftes Ensemble, wo ganze Landschaften verändert und bepflanzt wurden. Eine Fläche von 132 Hektar wurde bebaut und umgestaltet. Es gab großzügige Sportanlagen für die Athleten und eine antike Freilichtbühne, es gab das Maifeld als ein riesiger Aufmarschplatz und natürlich das Olympia-Stadion für 100.000 Menschen.

"Das hatte es vorher noch nicht gegeben, und die ganze Welt war baff, als das passierte. Und man war tief beeindruckt über die Wucht einer archaisch-statuarischen Inszenierung. Und man sah gar nicht die dahinter stehende Gleichschaltung von Massen. Und dieser Eindruck ist auch heute noch überwältigend, denn die Architektur spricht eine Jahrtausende alte, konzentrierte Sprache eines szenischen Oratoriums, was da ganz statisch dasteht."

Zum Reichssportfeld gehört auch ein Glockenturm, der sich zwischen den weitläufigen Tribünen am Rande des Maifelds erhebt. An einer Schmalseite des Olympia-Stadions hatte March eine Öffnung gelassen, dort ist das Marathontor, auf dem die große Schale für das Olympische Feuer steht, und über dem Tor wandert der Blick über das Maifeld bis hin zu dem fast 80 Meter hohen Glockenturm. Hier im Sockelgeschoss befindet sich die Langemarck-Halle. Der fatale Endpunkt einer Tradition, die weit in das 19. Jahrhundert reicht, sagt Ausstellungskurator Rainer Rother.

"Der Gedanke, dass Sport und Militär oder Turnen in diesem Fall und Krieg zusammengehören, ist schon in den Befreiungskriegen angelegt. In der Weimarer Republik erfährt das allerdings eine besondere Wendung, weil Sport und Turnen als etwas angesehen wird, was der Jugend einen Ersatz für die weggefallene Wehrpflicht vermittelt. Das hängt mit der Vorstellung zusammen, dass man einen gesunden Volkskörper haben muss, um auch wehrhaft zu sein. Das wird von den Nationalsozialisten dann durchaus aufgegriffen und verschärft, auch durch den Erfolg der Olympischen Spiele 1936, entwickeln dann praktisch alle Gliederungen der NSDAP, ob das nun HJ, SA oder SS ist, den Ehrgeiz auch sportlich Vorbildliches zu leisten, und das wird dann immer stärker natürlich in diesem ideologischen Kontext gesehen und auch benutzt."

Um die Organisation der Olympischen Spiele kümmerte sich der Sportfunktionär Carl Diem. Als Kriegsveteran des Ersten Weltkriegs war er tief enttäuscht von der deutschen Niederlage, und setzte nun alles daran, dass der Mythos von Langemarck auf dem Reichssportfeld seine volle Wirkung entfalten konnte.

"Carl Diem ist nach Langemarck gefahren und hat Erde vom Friedhof mitgebracht, wie er sagte, blutgetränkte Erde, und die dort in einem Schrein versenkt. Das ist ein ganz typisches Erdritual, das gehört etwa zur Gedenkform des unbekannten Soldaten dazu, dass man mit dem unbekannten Soldaten Erde von den Schlachtfeldern, auf denen die eigenen Truppen gekämpft haben, beisetzt."

"Ich rufe die Jugend der Welt."

Unmittelbar vor der Eröffnung der Olympischen Spiele hatten Hitler und sein Kriegsminister die Langemarck-Halle besucht. Erst danach machte sich Hitler auf den Weg, um auf dem Maifeld die Vertreter des Olympischen Komitees zu begrüßen, die sich die Provokation kommentarlos gefallen ließen. Seitdem war die Langemarck-Halle der offizielle Ort für die alljährlich stattfindenden Langemarck-Feiern.

"Es hingen damals die Fahnen der am Sturm auf Langemarck beteiligten Regimenter und Stahlschilde mit den Bezeichnungen der Regimenter da drin. Das hat sich dann im Laufe der Geschichte relativ schnell gewandelt, weil ab 1939/40 plötzlich die Langemarck-Halle nicht mehr so wichtig war wie der Friedhof von Langemarck: Nachdem erst einmal Belgien erobert war, hat die Wehrmacht die Langemarck-Feiern auf dem Friedhof in Langemarck durchgeführt, dann gab es dann nur noch Nebenfeiern in der Langemarck-Halle. Und dann nach 1945 hat die Halle eigentlich keine Zugänglichkeit mehr erfahren. Sie ist dann gelegentlich zugänglich gewesen, aber sie ist nie wieder Ort von Feiern gewesen, das hängt damit zusammen, dass natürlich der Langemarck-Mythos mit dem Zweiten Weltkrieg völlig zu Schanden geworden ist."

Doch ganz sang- und klanglos waren die Gespenster von Langemarck dann doch nicht verschwunden. Zunächst gehörte jetzt das Reichssportfeld zum Britischen Sektor der geteilten Stadt.

Jetzt fanden auf dem Maifeld die Geburtstagsparaden für die Englische Königin statt.

Schon 1947 hatten die Engländer den Glockenturm gesprengt, er war baufällig geworden, weil im Sockelgeschoss und in den Räumen unter den Tribünen Filme in Brand gerieten, die dort gelagert wurden. 1960 wurde dann Werner March beauftragt, den zerstörten Glockenturm wieder aufzubauen.

"Er hat die Gelegenheit sehr zügig ergriffen, und da hat er einfach ein bisschen höher gebaut, und er hat die Gelegenheit auch ergriffen, die Langemarck-Halle, die beschädigt, aber nicht zerstört war, auch wieder aufzubauen. Er war sich mit Carl Diem durchaus einig, dass das einfach integral zur Anlage gehört, und die beiden waren auch guter Dinge, dass die Langemarck-Halle irgendwann doch mal wieder ihrer ursprünglichen Nutzung zugeführt wird. Also da ist einfach eine ganz klare Überzeugung, dass das was 1936 richtig war, 1960 auch noch richtig sein muss."

Der Glockenturm bekam ein neues moderneres Gesicht, dagegen wurde die Langemarck-Halle detailgetreu rekonstruiert. Politische Einwände gab es damals weder von den Alliierten noch von der bundesdeutschen Politik. Plötzlich hingen die Schilde mit den Namen der zwölf Divisionen wieder an der Wand, flankiert von brennenden Toten-Schalen.

Nach der Wende kam das Reichssportfeld in die Obhut des Berliner Senats. Baulich war die Anlage in einem schlechten Zustand. Die Tribünen des Maifelds waren marode, und auch beim Glockenturm gab es Sanierungsbedarf. Deshalb wurde der Berliner Architekt Winfried Brenne mit der Instandsetzung des Glockenturms beauftragt. Als dann das Olympia-Stadion für die Fußballweltmeisterschaft 2006 umgebaut werden musste, gewannen die Hamburger Architekten "Gerkan, Marg und Partner" den Wettbewerb für den Stadion-Umbau. Damals machte Volkwin Marg den Vorschlag, eine Dokumentation über Langemarck und den NS-Sport in den Glockenturm zu bringen, denn er wollte das historisch vorbelastete Olympia-Stadion keinesfalls kritiklos sanieren.

"Ich bin der festen Überzeugung, dass man Geschichte nicht durch Liquidation und Leugnung bewältigt. Und aus diesem Grunde war ich der Meinung, dass ich dies Ensemble nicht durch Eingriffe zerstöre, aber wenn ich das mache, dann muss ich natürlich an irgendeiner Stelle auch die Kritik gegenüber dessen, was da steht, äußern können. Das ist ja heute ein allfälliges Mittel, das zu durchbohren, zu durchspießen und kaputt zu machen. Das habe ich mir verboten, das ist keine Art, mit einem Gegner umzugehen, auch einem ideologischen Gegner. So konnte das nur eine Stellungnahme dazu sein. Und die passiert auf zweierlei Weise: Einmal mit den ergänzenden Neubauten, die erforderlich waren, und zum Zweiten mit einer thematischen Ausstellung genau im Fokus der gesamten Anlage, einer Ausstellung über den Missbrauch der Jugend durch Sport."

6,5 Millionen Euro werden die Sanierung und die Einrichtung eines Dokumentationszentrums kosten. Die geplante Ausstellung betreut Rainer Rother vom Deutschen Historischen Museum. Bis zum Anpfiff der Fußballweltmeisterschaft soll alles fertig sein.

"Das ist ja kein Raum, der für irgendeine Nutzung normalerweise vorgesehen ist, es sei denn als Lager. Und wir lassen diese Architektur auch durchaus durchschimmern, es wird nicht kaschiert. Das bedeutet aber auch, dass es keine stabile Klimatisierung gibt, sondern es ist eben so wie es ist, im Winter anders als im Sommer. Das bedeutet, dass wir vom 1. April bis 31. Oktober Öffnungszeiten haben werden, und das heißt auch, dass es keine Exponate im klassischen Sinne gibt, sondern dass wir im Wesentlichen mit Texten, Fotos, Abbildungen arbeiten, mit modernen Medien, wie der CAD-Animation, die da projiziert wird und mit Film."

Der Aufzug zur Aussichtsplattform erhält gläserne Wände, so dass die Besucher während der Fahrt großflächige Fotos und Filmausschnitte sehen können, die von Olympia und der Langemarck-Halle erzählen.

"Mein Führer, ich melde Ihnen, die größte Jugendkundgebung der Welt."

In der Medienbox informiert ein Film über das Olympia-Gelände und über den Mythos Langemarck. Hier wird auch Reinhard Appel seine Geschichte erzählen, wie er als Jugendlicher von Olympia begeistert war, und wie er auf dem Maifeld stand, als Carl Diem mit einer flammenden Rede und mit dem Hinweis auf Langemarck die Hitlerjugend zum letzten Gefecht aufrief, um für Führer, Volk und Vaterland in den Heldentod zu gehen.

"In dieser Feierstunde waren also so Zitate, wenn die Perser mit ihren Speeren den Himmel verfinstern, werden deren Schatten weiterkämpfen, und all das tropft vor lauter Pathos, aber wir waren von diesem Pathos auch getragen. Ich habe dem damals nicht widersprochen. Das ist eine bedrückende Erinnerung, und wir waren bereit, ich auch, diesen Opfertod zu sterben, um zu verhindern, was natürlich eine Illusion war, dass die Russen, die Sowjets Berlin erobern."

Nach 1945 blieb Carl Diem einflussreicher Sportfunktionär, hoch geehrt starb er 1962. Im Dokumentationszentrum wird demnächst auch sein Lebensweg nachgezeichnet, der mit zum Mythos Langemarck gehört. Und man erfährt mehr über die Rolle des Sports im Nationalsozialismus. In der Medienbox ist dann auch ein Film zu sehen, in dem Reinhard Appel erzählt, wie er und seine Generation von Langemarck beeinflusst wurden. Es ist ein Lehrstück über die Verführbarkeit der Jugend durch eine menschenverachtende Ideologie und durch den Sport.