Mythos am Wegrand

Von Jörg Wunderlich · 19.07.2012
Das freie und lebendige Erzählen von Geschichten ist eine Fähigkeit, die in unserer Medien- und Bildschirmwelt so gut wie abhanden gekommen ist. Pädagogen, Festivalmacher und Künstler bemühen sich um eine Wiederblebung dieser uralten Kulturtechnik. Einer von ihnen ist der Töpfer Frank Verchau.
"Für die, die mein Geschirr noch nicht kennen, mache ich immer ein Spiel. Also wenn Ihr Lust habt, nehmt Ihr mal irgendwas in die Hand. Merkt Euch die erste Berührung. Ihr könnt jeder etwas nehmen, das wird dann spannender ..."

Auf fast jedes Stück Keramik, das Frank Verchau herstellt, zeichnet er eine Geschichte aus der griechischen Mythologie. Und wer den Töpfer in seiner Werkstatt aufsucht, bekommt nicht nur fürs Auge, sondern auch für die Ohren viel geboten.

"Hier ist es mehr ein kultisches Bild. Diese Wesen halb Mensch, halb Pferd sind die Kentauren und der König der Kentauren hieß Chiron. Und er war der berühmteste Lehrer und Erzieher in der Antike ..."

Vor acht Jahren entdeckte Frank Verchau in der Nähe von Rheinsberg ein leer stehendes Haus, groß genug zum Arbeiten und Wohnen. Der allein lebende Künstler verließ Berlin und zog nach Diemitz. Hier in der idyllischen Gegend zwischen Müritz und Havel kann er sich nun Zeit nehmen für seine Kunden. Denn das Erzählen gehört für ihn genau so selbstverständlich zu seiner Arbeit wie die Herstellung von Gefäßen oder Skulpturen. Jeder Besucher bekommt, auch wenn er nur mal kurz schauen will, eine Geschichte mit auf den Weg.

"Ich begreife mich nicht unbedingt als Mythologe. Ich kenne einen Teil, der mir sehr nah ist. Was mich insgesamt interessiert, ist die Frage nach dem Sinn des Lebens und nach der Entwicklung von Gesellschaft. Und solche Dinge spiegeln sich in Mythen natürlich sehr gut wieder."

Die Götter- und Heldensagen der Antike beschäftigen den 53-jährigen drahtigen Mann mit Dreitagebart und graubraunen Augen schon seit seiner Kindheit. Weil er als Linkshänder in der Schule gezwungen wurde, mit rechts zu schreiben, bekam er damals eine Lernstörung und verweigerte den Unterricht. Erst als man ihm ein illustriertes Buch mit griechischen Sagen schenkte, begann er wieder zu lesen und auch zur Schule zu gehen. Seitdem ließ ihn das Thema nie wieder los. Aufgewachsen ist Frank Verchau in Hennigsdorf bei Berlin, einer DDR-Kleinstadt mit Stahlindustrie.

"Ich habe zuerst einen Beruf erlernt, von dem meine Eltern meinten, dass er gut für mich wäre. Ich bin also Elektromonteur geworden, habe das dann noch studiert und bin dann in einem Betrieb als Ingenieur gelandet. Und plötzlich steht man also im Berufsleben, mit Frau und Kind und das alles im achten Stock im Hochhaus in einer Einraumwohnung. Und irgendwann kollabiert dann das ganze."

Nicht nur Job, Identität und Familie brachen für Frank Verchau damals am Ende der Achtziger Jahre zusammen, sondern wenig später gleich die ganze DDR inklusive ihrer Industrie. Wie viele andere Menschen auch orientierte er sich in der politischen Wendezeit völlig neu. Einfach war das nicht, denn er wusste zunächst eigentlich nur, was er nicht mehr wollte. Zu seinem Traumberuf fand er durch eine entscheidende Begegnung bei einer Reise an die Ostsee.

"Und wir fragen die ältere Dame, ob es nicht möglich wäre, noch ein Zimmerchen irgendwo zu bekommen und dann fing diese ältere Dame an ihr Leben zu erzählen, also vom Krieg und wie glücklich sie ist, in dieser Töpferwerkstatt sitzen zu können. Und ich guckte mich um und hatte das Gefühl, dass hier alles so einen Sinn hat und dann war mir plötzlich klar, ich werde Töpfer. Das werde ich auf jeden Fall probieren."

Frank Verchau hatte Glück und fand einen regulären Ausbildungsplatz zum Keramiker. Nach drei Jahren, mit Mitte 30, hatte er endlich seinen Gesellenbrief in der Tasche und begann damit, seine eigenen Formen und Motive zu entwickeln - und besann sich auf den Stoff, der ihn schon sein ganzes Leben so beschäftigte.

"Irgendwann hatte ich einen größeren Teller und merkte, dass ich den mal anders gestalten will und fing an, aus meinen Gedanken heraus Nyx, die Göttin der Nacht und ihre Kinder zu malen. Und wie ich da am Malen bin, schaut mir ein junger Mann über die Schulter und sagt, das ist aber anders, als das was sie im Regal haben. Im ersten Moment war ich ein bisschen erschrocken, als er mich fragte, was es darstellt. Ich sagte "Nyx" und er fragte, wieso nix, es ist doch was zu sehen. Und ich antwortete, Nyx ist die Göttin der Nacht und so weiter ..."

Obwohl die homerischen Sagen zum Bildungskanon gehören, sind den heutigen Menschen Fantasy-Stoffe wie die Tolkien-Saga oder Harry Potter oft näher. Frank Verchau schafft es mit seiner Begeisterung, dass ihm Kinder wie Erwachsene gleichermaßen fasziniert zuhören und überrascht sind, was sich in den Bildern auf den Keramiken verbirgt. Auch wenn er ein routinierter Erzähler ist, wird doch jede Begegnung mit einem Zuhörer für ihn selbst immer wieder zu einer neuen Erfahrung.

"Irgendwann habe ich gemerkt, dass das genau die Möglichkeit ist, nach der ich suche, um in Gedankenaustausch zu kommen mit den Menschen. Nachdem sich meine Befangenheit ein Stück gelöst hat, wurde das für mich zu einer Art Meditation - die Kraft der Wiederholung.

Es gibt Geschichten, die habe ich wahrscheinlich seit 13 Jahren oder länger immer wieder erzählt und plötzlich entdecke ich da noch Aspekte, die ich vorher noch nicht gesehen habe. Da erhellen sich bestimmte Dinge und das macht mir Freude."

Service:
Und falls Sie vorhaben, Urlaub in Mecklenburg-Vorpommern zu machen, können Sie Frank Verchau dort auf Töpfermärkten antreffen, zum Beispiel auf der Insel Usedom in Morgenitz am 28. und 29. Juli 2012 oder eine Woche später auf dem zentralen mecklenburgischen Töpfermarkt in Burg Schlitz am 4. und 5. August 2012.