Mystische Mantras in Hohenschönhausen

Von Tim Zülch · 28.07.2012
Bei den Hippies der 60er- und 70er-Jahre war die indische Hare Krishna-Religion en vogue, danach hat man von der Bewegung nur noch wenig gehört. Doch in einem Berliner Tempel treffen sich noch heute etliche Krishna-Anhänger im Dunst der Räucherstäbchen.
Eine Altbauwohnung in Berlin Hohenschönhausen. Der Geruch von Räucherstäbchen liegt in der Luft. Ananda Tiertha Das steht im Flur. Er lächelt, weist in Richtung Andachtsraum am anderen Ende des Flurs. Seit sechs Jahren lebt der Anfang-30-Jährige im Hare Krishna-Tempel im Nordosten Berlins. Zusammen mit drei weiteren Mönchen. Zwischen 200 und 300 Gemeindemitglieder sind dem Tempel verbunden.

Er schlägt ein Glöckchen, betritt dann den rund 50 Quadratmeter großen Andachtsraum. Diesen dominiert ein wuchtiger, reich geschmückter Altar mit einer Überdachung aus Holz. Auf dem Altar befinden sich drei Holz-Figuren in bunten Kleidern.

Ananda Tiertha Das: "Wir haben natürlich den Altar. Auf dem haben wir diese traditionellen Bildgestalten von Krishna. Tschaganat, Baladev und Subatra. Die werden immer verehrt und mit Liebe wird ihnen Verschiedenes dargebracht."

Tiertha Das nimmt im Schneidersitz auf einem Stuhl Platz. Seine Haare sind rasiert. Am Hinterkopf hat er einen Zopf stehen lassen - Erkennungszeichen der Hare Krishnas. Ein safranfarbenes Gewand bedeckt Körper und Füße, auf der Nase trägt er ein aufgemaltes Symbol, von dem sich zwei Striche bis zur Stirn ziehen.

"Diese Farbe symbolisiert Entsagung, zeigt, dass es ein entsagter Mensch ist. Jemand, der sich dem spirituellen Pfad widmet. Auf der Stirn diese zwei Linien. Das ist Ton aus heiligen Flüssen aus Indien. Die werden in diesen zwei Linien auf der Stirn getragen und mit diesem Blattförmigen auf der Nase. Das ist eine Jahrtausende alte Tradition aus Indien."

Entsagung bedeutet bei den Hare Krishnas: Eine streng vegetarische Ernährung, keine Rauschmittel und anregende Getränke. Der Verzicht auf Glücksspiel und auf Sexualität, die nicht der Fortpflanzung dient.

Ananda Tiertha Das kommt ursprünglich aus Österreich. In Wien kam er erstmals in Kontakt mit der Religion der Hare Krishnas. Er studierte noch, als er auf der Straße von Buchverteilern angesprochen wurde ...

"Ich habe die Mönche, Devotees, wie wir sie nennen, kennengelernt und war sehr begeistert von ihrer Lebensweise, von ihren Einstellungen, von ihren Persönlichkeiten und speziell natürlich auch von der Philosophie, die hier präsentiert und gelebt wird. Ich habe gerade heute morgen wieder kurz drüber nachgedacht, dass ich nicht wirklich gelitten habe in meiner materiellen Lebensweise. Ich würde nicht sagen, dass ich das als eine Rettung gesehen hätte. Das war eher eine natürliche Entwicklung durch mein Studium und meine Suche nach Kenntnissen."

Die Religion der Hare Krishnas basiert auf Schriften des alten Indiens – vedische Schriften, die um 1000 vor Christus entstanden sind. Oft wird die Religion mit der Hippiebewegung der 60er-Jahre assoziiert. Das ist nicht falsch. Swami Prabhupada – der Gründer und bis heute verehrte Guru der Bewegung – ging 1965 von Indien in die USA, um dort seine Religion zu verbreiten.

Ein Jahr später gründete er die Gesellschaft für Krishnabewusstsein ISKCON, die 1969 auch zwei Zentren in Deutschland eröffnete. Prahupada übersetzte indisch-vedische Schriften ins Englische und versah sie mit Kommentierungen. Seine wichtigste Übersetzung: Die Bhagavad Gita. Die "Bibel" der Hare Krishnas. Diese wird von ihnen allerdings weitaus fundamentalistischer ausgelegt als dies andere hinduistische Strömungen tun.

"In diesem Buch wird erklärt, dass wir nicht der materielle Körper sind. Unser Körper ist unsere Hülle, unser Gewand. Wir sind spirituelle Lebewesen. Der schöne Punkt an der ganze Sache ist, dass wir nicht warten müssen, bis wir sterben und in die spirituelle Welt gehen, um zu sehen, ob es wirklich stimmt, sondern wir können im Hier und Jetzt schon erfahren, dass wir spirituelle Lebewesen sind und nicht Körper, und ein höheres Bewusstsein entwickeln, eine höhere Freude erfahren, wodurch alle materiellen Freuden nebensächlich werden - und Leiden auch."

Samstagnachmittag, kurz nach 16 Uhr. Im Tempel herrscht Hochbetrieb. Rund 40 Devotees sitzen auf Kissen auf dem Boden des Andachtsraums. Einer spielt das traditionelle Harmonium, eine Art kleine Orgel. Seine linke Hand pumpt Luft auf die Klangzungen im Innern des Instruments. Ein Anderer schlägt die Mridangam, eine zweiseitige bengalische Trommel. In der Küche kochen noch andere das traditionell nach der Zeremonie servierte vegetarische Essen – Prasadam.

Schließlich betritt ein Mönch mit einer Schüssel im Arm den Raum. Er reicht dem Gott Krishna symbolisch das Essen - schwenkt andächtig Räucherstäbchen, kleine Kerzen und Blüten vor den Figuren auf dem Altar. Gemeinsam singen sie das Hare-Krishna-Mantra.

"Dieses Mantra ist eine mystische Erfahrung, sicherlich trifft es den Urgrund unseres Selbst, dringt dorthin, wo keine anderen Sinneseindrücke oder materiellen Freuden hinkommen. Wenn wir eine materielle Klangschwingung rezitieren würden. Coca Cola Coca Cola Cola Cola Coca Coca , dann würden wir sehr schnell müde werden und es würde sehr abstrakt klingen und es würde uns nichts geben. Es würde langweilig werden. Dieses Mantra kann man 24 Stunden am Tag chanten und es wird nie langweilig. Im Gegenteil, es wird sogar immer besser. In den Veden wird das beschrieben als ein sich ewig erweiternder Ozean der Glückseligkeit."

Dass das Singen eines Mantras glücklich machen kann, hat Religionswissenschaftler Daniel Böttger von der Uni Leipzig in einer empirischen Untersuchung herausgefunden. Er ließ Testpersonen verschiedene Arten von Mantras singen. Das Ergebnis:

"Ich habe versucht, aus der komplexen Situation in einem Tempel zu isolieren, welche Funktion die Bewegung der Lippen haben kann. Zu diesem Zweck habe ich ein eigenes Ritual entworfen. Es gab zwei Varianten des Rituals. In der einen Variante kamen ganz viele As und Es vor, in der anderen eher Üs und Ös. Es hat sich gezeigt, dass die Gruppe, die viele As und Es zu singen hatte, mehr Lust hatte, das noch mal zu wiederholen als die Gruppe mit den Ös und Üs. Das gibt ein Argument dafür, dass ein Ritual, das viele solcher positiven Vokale beinhaltet, eher wiederholt wird, eher sich auch zu einer Tradition formen kann, als etwas, das schlicht keinen Spaß macht."

Für Tempel-Besucherin Fulesh Wari Dasi ist vor allem das Singen in der Gruppe ein besonderes Erlebnis. Durch ihre Eltern kam sie zum Hare Krishna, erhielt ihren spirituellen Namen. Ehelosigkeit ist bei den Hare Krishnas nicht vorgeschrieben. Sie hat zwei Kinder und lebt, ein ganz normales Leben, wie sie sagt. Eine besondere Kleidung trägt sie nicht. Den Tempel besucht sie nur gelegentlich.

"Wir chanten ja auch auf der Gebetskette und dann macht man das im Stillen. Wenn man jetzt in einem Raum sitzt und ganz viele singen, dann kann man sich viel besser konzentrieren auf diese Meditation. Es entsteht auch viel mehr Freude. Man vergisst diese ganze materielle Welt, diesen Stress und den Druck, den vergisst man dann. Manchmal hat man auch diesen Gänsehauteffekt. Es ist nicht so wirklich ein beschreibbares Gefühl."

Die christlichen Kirchen akzeptieren Hare Krishna mittlerweile als Partner im interreligiösen Dialog. Das war nicht immer so. Als Swami Praphupada kurz vor seinem Tod 1977 die Leitung der ISKCON an mehrere Mitglieder übergab, folgte eine Phase der Orientierungslosigkeit. In den USA wurde ein Krishna-Mönch des Mordes angeklagt, in Deutschland fanden die Behörden in Räumen der ISKCON Schusswaffen. Seit Anfang der 90er-Jahre begann die Religionsgemeinschaft jedoch mit der Aufarbeitung der problematischen Vergangenheit. Ein Prozess, den Stefan Barthel von der Leitstelle für Sekten und Psychogruppen des Berliner Senats als "kleine Perestroika" bezeichnet.

"In der Tat hatten wir über viele Jahre in der Vergangenheit keine häufigen Beratungsanfragen, das waren eher Informationsanfragen. Das ist immer ein relativ gutes Indiz, ob da eine Konfliktträchtigkeit vorliegt oder nicht. Dieser Prozess ist sicher nicht abgeschlossen, die haben sicher noch einiges aufzuarbeiten, aber wo sich das hin entwickelt, da kann man sehr gespannt sein."

Der Boden der Altbauwohnung in Hohenschönhausen schwingt mittlerweile unter den tanzenden Schritten der Gläubigen. Einige wiegen sich im Takt, andere fassen sich an den Händen und tanzen im Kreis.

Schließlich endet die Zeremonie in einem gemeinsamen, stillen Gebet.

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