Mutterwärme

Von Tobias Wenzel · 04.02.2013
Die moderne Kommunikation hat dazu geführt, dass zwischenmenschliche Wärme verloren gegangen ist, sagt die 49-jährige Kyung-Sook Shin. Das ist eine Aussage, die auch mitschwingt bei der Lektüre ihres Romans "Als Mutter verschwand", der jetzt auch auf Deutsch vorliegt.
"Eine Woche ist es jetzt her, dass Mama verschwunden ist. Die Familie ist bei deinem ältesten Bruder Hyong-Chol versammelt und diskutiert, was sie unternehmen soll. Ihr beschließt, Flugblätter zu drucken und in der Gegend zu verteilen, wo Mama abhanden gekommen ist."

Eine alte Frau verschwindet spurlos am belebten Hauptbahnhof von Seoul; ihr Mann verliert sie beim Einsteigen in die U-Bahn aus den Augen. In Kyung-Sook Shins Roman "Als Mutter verschwand".

Der Kontrast zwischen dem lauten, vor Menschen wimmelnden Hauptbahnhof und jenem Ort, den sich Kyung-Sook Shin für das Interview ausgesucht hat, könnte nicht größer sein. Im Chong-Yung-Kim-Museum im bergigen Norden Seouls herrscht absolute Stille, während sich die Schriftstellerin zwischen den abstrakten Skulpturen aus Holz und Stein bewegt.

Kyung-Sook Shin hat schulterlanges Haar, trägt eine schwarze Strickjacke über einem weißem Oberteil und eine Halskette mit einem massiven Metallring als Anhänger. Die schwarzen Schuhe mit den dicken hohen Absätzen scheinen nicht ganz zur etwas schüchternen Art der Autorin zu passen. Aber beim Gang durch ihr Lieblingsmuseum macht die Schüchternheit schon bald Shins wundervoll leisem Humor Platz:

"Ohne Erlaubnis benutze ich einfach dieses Museums als mein Arbeitszimmer, als Ort für Interviews und als Ruheraum."

Die 1963 im südkoreanischen Dorf Chongup aufgewachsene Autorin wohnt ganz in der Nähe des Museums und kommt manchmal selbst nachts hierher, um die Spiegelung des Mondes im Teich zu beobachten. Denn das Außengelände ist immer frei zugänglich. Auch die Terrasse. Von dort aus blickt sie nun in die Gärten der benachbarten Häuser:

"Da in den Beeten wächst Gemüse und daneben sind viele Blumen. Dieser Garten erinnert mich an unseren Garten in meinem Dorf. So etwas sieht man selten in Seoul. In diesem Viertel hier treffen sich Vergangenheit und Gegenwart, die Landschaft der Provinz und die der Moderne.
Wie die Mutter aus meinem Roman hat auch da vorne im Garten jemand fleißig gearbeitet."

Im Roman merken die Angehörigen der verschwundenen Frau erst, was sie an ihr hatten, als sie verschwunden ist. Leser und Schriftsteller-Kollegen haben Kyung-Sook Shin immer wieder gefragt, ob denn Shins Mutter nun endlich wieder aufgetaucht sei. So glaubhaft fanden sie den Roman, dass sie sich nicht vorstellen konnten, sie habe die Geschichte erfunden. Shins Mutter aber lebt nach wie vor in ihrem Dorf. Die Tochter hat allerdings in der Tat einige Erinnerungen an ihre Mutter im Roman verarbeitet. Das Buch ist somit zugleich eine Liebeserklärung an alle Mütter und an die eigene, an die die Autorin so oft denkt:

"Vor allem kommen mir die Hände meiner Mutter in den Sinn. Als ich diesen Roman schrieb, kam es mir vor, als hätten die Hände meiner Mutter mitgeschrieben. Und danach denke ich an die Tränen meiner Mutter. Mitten in der Nacht saß sie manchmal ganz allein mit Tränen in den Augen. Ihre Hände wiederum ruhten nie, waren immer geschäftig. Wenn ich heutzutage meine Mutter besuche, halte ich immer wieder ihre Hände, damit sie endlich mal zur Ruhe kommen können."

Bis sie 15 war, lebte Kyung-Sook Shin in ihrem Dorf. Dann zog sie zu ihrem älteren Bruder nach Seoul, um die Eltern, beide einfache Bauern, finanziell zu entlasten. Sie arbeitete in einer Fabrik, holte auf einer Abendschule das Abitur nach und schrieb erste Erzählungen. Als Kyung-Sook Shin begleitet von ihrer Mutter das Dorf in Richtung Seoul verließ, fasste die Jugendliche den Entschluss, später einmal ein Buch über ihre Mutter zu schreiben, die sich so sehr für ihre sechs Kinder aufgeopfert hatte und oft mit den Nerven am Ende war:

"Im Roman zerwirft die Mutter Geschirr, um sich abzureagieren und mit ihrer Wut nicht die Menschen zu treffen. Wenn ich wütend bin, wasche ich mir wie besessen die Hände. Mit kaltem Wasser und sehr viel Seife. Das hilft mir dabei, nicht mehr nachzudenken. Dann gehe ich ins Bett und schlafe. Und danach bin ich oft der Lösung des Problems einen Schritt näher gekommen."

Kyung-Sook Shin hat selbst keine Kinder. Sie lebt mit ihrem Mann, einem Dichter und Literaturkritiker, im Reichen-Viertel Pyungchang-Dong. Ein Blick auf die Berge hier genügt - und schon denkt Kyung-Sook Shin an die Berge ihres Dorfes und an ihre Mutter. So wie die Leser des Romans "Als Mutter verschwand" an ihre eigene Mutter denken mussten. Ein Kniff in der Konstruktion des Romans hat die Wirkung wohl noch verstärkt:

"Der erste Teil des Romans ist ja in der Du-Anrede geschrieben. Da haben sich viele Leser angesprochen gefühlt und darüber im Internet berichtet. Etwa so: 'Ich musste einfach meine Mutter anrufen. Und als sie dran war, habe ich gesagt: Ich liebe dich!' Die Reaktion einiger Mütter war dann: 'Warum denn das auf einmal?! Geht's dir nicht gut? Bist du krank?"