Mutter Ganges

Vom Leben und Sterben am heiligen Fluss

Menschen am Ganges im indischen Kalkutta
Menschen am Ganges im indischen Kalkutta © dpa / picture alliance / Piyal Adhikary
Von Jürgen Webermann · 22.11.2016
Viele Inder nennen den Ganges ihre Mutter. Tatsächlich hat sein Wasser besondere Kräfte - es bleibt länger frisch als das in anderen Gewässern. An den Ufern des Flusses, der wegen der enormen Verschmutzung längst tot sein müsste, stieß unser Korrespondent auf erstaunlich viel Leben.
Noch wenige Kilometer, dann wird AC Jha am Ziel sein.
AC Jha: "Mein Herz wird vor Freude aufgehen. Es wird einer der bewegendsten Momente meines Lebens."
AC Jha ist Intensivmediziner, 59 Jahre alt. Auf der Intensivstation eines renommierten Krankenhauses im indischen Bundesstaat Jarkhand rettet er normalerweise Leben.
Aber hier oben im Himalaya-Gebirge, inmitten von Gletschermoränen, umgeben von fast 7000 Meter hohen Eisgipfeln und steilen Geröllhängen, ist AC in einer anderen Mission unterwegs, die so gar nicht mehr weltlich ist.
AC Jha: "Ich bin hier nur aus spirituellen Gründen. Seit meiner Kindheit inspiriert mich der Ganges. Für mich ist der Fluß wie eine Mutter. Er ist die Lebensquelle Indiens."
Und die Quelle des Ganges ist schon in Sicht. Oder besser, das Eis, aus dem das Wasser fließt. Es ist ein gewaltiger Gletscher, der sich vor AC auftürmt, vielleicht 150 Meter hoch.
An einem kleinen, aus Steinen aufgetürmten Tempel am Wegesrand, bleibt AC kurz stehen. Er betrachtet die bunten Gebetsfahnen, er bittet den Gott Shiva, seine Pilgerreise zu akzeptieren, und läutet eine kleine Glocke, die jemand an einem Stück Holz angebracht hat.
AC Jha: "Es wird gesagt, dass der Gott Shiva einst die Wassermassen, die vom Himmel stürzten, mit seinem Haar gebremst hat. Alles hier in dieser Gegend gehört Shiva."
In der Mythologie der Hindus geht die Geschichte so: Die Söhne eines großen Königs wurden von einem zornigen Gelehrten zu Asche verbrannt. Sie hatten nur eine Chance auf Erlösung. Jemand musste die Ganga, die nichts anderes als die Milchstraße am Himmel ist, auf die Erde holen. Der Weise Bhagiratha wollte genau das erreichen.
Aber wären die Wassermassen der gewaltigen Milchstraße einfach herabgestürzt, hätten sie die Welt zerstört. Bhagiratha meditierte also so lange, bis der Gott der Schöpfung und der Zerstörung, Shiva versprach, die Wassermassen zu bremsen, wenn sie denn frei gesetzt werden. Shivas Haar teilte also das herabstürzende Wasser in sieben Ströme, die sieben heiligen Flüsse Indiens. Der Ganges, der am Oberlauf noch nicht so heißt, sondern nach Bhagiratha benannt ist, gilt als der heiligste dieser Flüsse.
Das Gletschertor ähnelt einem Kuhmaul
Eine Stunde nach dem kurzen Besuch am Steintempel ist AC Jha am Ziel. Er steht auf einer Gletschermoräne und blickt herab auf Gaumukh, zu deutsch: das Kuhmaul. Das ist nichts anderes als das Gletschertor, das mit viel Phantasie einem Kuhmaul ähnelt. Jetzt muss AC nur noch die Moräne herab klettern, um zum heiligen Wasser zu gelangen. Aber das ist gefährlich. Und unten am Gletschertor stürzen immer wie der Eisbrocken ab.
Das Gletschertor, das auch "Kuhmaul" genannt wird.
Das Gletschertor, das auch "Kuhmaul" genannt wird.© ARD / Jürgen Webermann
AC Jha: "Ich habe keine Worte, um meine Gefühle auszudrücken. Ich habe das Ziel meines Lebens erreicht. Ich sage Dir, und das musst Du mir jetzt glauben: Selbst wenn ich hier oben sterben sollte, würde ich es genießen. Es würde mir nichts ausmachen. Es wäre eine Erlösung."
Und schon läuft AC los, eine leere Flasche in der Hand, die er mit dem Wasser aus dem Kuhmaul füllen wird. Der Arzt ist nicht etwa lebensmüde. Er hat daheim eine Frau und zwei Söhne, die er auch gerne wiedersehen will. AC aber glaubt wie die meisten Hindus, dass jeder, der am heiligen Ganges stirbt, dem Kreislauf der Wiedergeburten entkommt und so erlöst wird.
In dem tief geschnittenen Tal unterhalb von Gaumukh, auf den ersten 20 Kilometern, ist der Ganges so rein wie sonst nirgendwo auf seinem langen Weg. Die erste Anwohnerin an seinem Ufer lebt dort, wo die Wälder beginnen, auf etwas mehr als 3000 Metern Höhe, abseits des Wanderweges.
Es ist Bhakti Priyananda, Mitte 50, sie hat ein strahlendes Lächeln und wallendes, silbernes Haar. Was sofort auffällt, ist ihr wunderschönes, jung gebliebenes Gesicht mit lebendigen Zügen.
Bhakti stammt eigentlich aus der südindischen Stadt Bangalore. Sie ist Sonderpädagogin. In den USA hat sie einen Doktortitel gemacht. Aber Bhakti zog es zurück nach Indien. Jahrelang unterrichtete sie Kinder aus armen und benachteiligten Familien, zuletzt im weit entfernten Nordosten des Landes. Vor 14 Jahren aber stieg Bhakti aus.
Die Einsiedlerin Bhakti, die seit 14 Jahren im Himalaya lebt, in einer Höhle
Die Einsiedlerin Bhakti, die seit 14 Jahren im Himalaya lebt, in einer Höhle© ARD / Jürgen Webermann
Bhakti: "Ich habe so viel Leid gesehen. Irgendwann habe ich dann beschlossen, hierher in den Himalaya zu kommen und Gott zu suchen. Alleine. Ich habe erst in einem Dorf gelebt. Dann habe ich unter einem Felsvorsprung an einem Wasserfall gelebt. Ich habe weiter gesucht. Und als ich hierher kam, fand ich diesen Platz hier. Die Tür war offen. Und ich bin durch sie hindurch gegangen."
Die Tür, die jemand vor ihr eingebaut hatte, führte direkt in eine kleine Höhle, in einem riesigen Felsbrocken, der irgendwann einmal vor vielen Jahren von den mächtigen Hängen gestürzt sein muss. Und wenn Bhakti den Hang hinunter geht, vielleicht hundert Meter weit, ist sie am sprudelnden Ganges. Dieser Ort, beschloss sie, ist perfekt für ihr Leben als Einsiedlerin.
Bhakti: "Als ich klein war, habe ich zwar viele Geschichten über den Ganges gehört, aber ich wusste eigentlich nichts über den Fluss, außer, dass man hier Erlösung finden kann. Frieden. Als ich noch zur Schule ging, erzählte mir meine Tante dann eine Geschichte. Sie handelte von Europäern, die der Frage, warum es so viele Heilige am Ganges gibt, nachgehen wollten.
Sie wollten wissen, ob das Wasser selbst den Fluss so besonders macht. Also haben sie Wasser mit auf ihre Segelschiffe genommen. Und sie fanden heraus, dass es im Gegensatz zu anderem Flusswasser nicht faulte. Es blieb frisch. Es roch nicht. Es gibt also eine Kraft im Wasser. Göttliche Kraft. Diese Geschichte half mir dabei, eine tiefe Liebe zum Ganges zu entwickeln. Es geht um Liebe und Glauben, Glauben, Glauben."
Bei den Menschen weiter unten in den Dörfern ist Bhakti bestens bekannt. Einige bringen ihr Lebensmittel. Jemand hat sogar eine kleine Solaranlage installiert. Vor ihrem Zuhause hat sie ein orangefarbenes Tuch ausgebreitet, kleine goldene Kelche und zwei Bilder aufgestellt vom Affengott Hanuman, den sie verehrt, und natürlich Shiva. Wie verbringt Bhakti ihren Alltag hier oben, mitten in der Natur?
Bhakti: "Es ist schön. Ich bin glücklich. Es ist so friedlich. Frag' mich nicht nach irgendwelchen besonderen Aktivitäten. Ich bin einfach hier, ich singe, die alten Gesänge. Ich lese die Schriften oder beschäftige mich mit guten Gedanken. Das ist wie geistige Nahrung für mich. Ich lese Bücher. Wenn mir jemand ein Buch über das Christentum gibt und sagt: Das ist gut! Dann lese ich es."
Bhakti sieht glücklich aus. Mit sich im Reinen.
Bhakti: "Manche Leute finden mich und mein Leben merkwürdig. Sie fragen mich, ob ich mich nicht fürchte, so alleine hier oben. Ja, manchmal habe ich Angst. Aber selbst wenn mir etwas passieren sollte: Es ist ja nur mein Körper, der dann Schaden nimmt. Ich selbst bin für die Ewigkeit, wie wir alle. Eines Tages muss ich eh sterben. Warum soll ich also in Angst leben? Lass' die Dinge geschehen. Lebe und genieße es."
Bhakti sagt, sie will bis zum Lebensende hier oben am Ganges bleiben. Ob ihr das gelingt, das liege aber nicht in ihrer Hand. Das entscheide einzig und allein Mutter Ganga.
Es ist sieben Uhr morgens. Ein leichter Nebel wabert über dem Ganges. Das andere Ufer ist kaum zu sehen, es ist mehr als einen Kilometer entfernt. In der Stadt Varanasi in der riesigen Gangesebene, weit vom Himalaya entfernt, fließt der Strom langsam und bedächtig. Ganz so, als ob Shiva ihn noch einmal abgebremst hat mit seinem Haar.
Mishra ist einer der bekanntesten Priester

Das Wasser am Tulsi-Ghat steht hoch. Es verschlingt die untersten Stufen. Der Monsunregen war in diesem Jahr stärker als sonst. Ghats - das sind alte Badestellen, von früheren Herrschern und Reichen angelegt, um sich von Sünden reinzuwaschen. Die Steintreppen führen direkt in den Fluss. Mehrere Männer entblößen sich auch heute früh, sie tragen zum Baden lediglich einen Lendenschurz. Genau diese morgendliche Szene wiederholt sich hier seit Jahrhunderten. Varanasi ist eine der ältesten Städte Indiens.
Mishra: "Wir nehmen erst ein Bad. Dann gibt es eine Puja, eine Segnung. Jeden Morgen um diese Zeit bin ich hier."
Bishambar Mishra ist einer der bekanntesten Priester hier an den Ghats von Varanasi. Er ist nicht irgendein Priester. Er ist gleichzeitig Mikrobiologe. Von etwa 450 Millionen Litern Abwasser pro Tag können die Klärwerke der Stadt gerade mal 20 Prozent reinigen. Das allmorgendliche Bad verursacht bei vielen Menschen Durchfall, das gibt auch Mishra zu.
Bishambar Mishra ist Priester und Mikrobiologe. Jeden Morgen nimmt er ein Bad im Ganges, der in Varanasi von Fäkal-Bakterien durchsetzt ist.
Bishambar Mishra ist Priester und Mikrobiologe. Jeden Morgen nimmt er ein Bad im Ganges, der in Varanasi von Fäkal-Bakterien durchsetzt ist.© ARD / Jürgen Webermann
Aber weiter stromabwärts geschieht Rätselhaftes. Nach wenigen Kilometern sind die Werte auf einmal deutlich besser.
Mishra: "Das ist das Faszinierende an diesem Fluss. Das Wasser reinigt sich selbst. Wissenschaftler fragen immer wieder, woran das liegt. Warum es nicht fault. Aber die Daten, die wir haben, sind nicht verlässlich. Wir wissen einfach nicht, woran das liegt."
Auch Ghulab Bhai glaubt an die göttlichen Kräfte des heiligen Flusses. Sie ist zum Sterben nach Varanasi gekommen. Und sie hat sich einen schönen Ort ausgesucht. Das Chaos und der Dreck der Millionenstadt scheinen weit weg zu sein. Statt Verkehrslärm sind Gebete des Priesters aus einem kleinen Tempel zu hören. Im Innen-hof der einfachen Wohnanlage spendet ein alter, großer Baum Schatten und Ruhe.
Ghulab Bhai ist 82 Jahre alt. Sie stammt aus Zentralindien. Sie sagt, sie habe Krebs, Diabetes und Bluthochdruck.
"Mein Ehemann starb auch schon hier. Und wie er will ich Erlösung vom Leben. Die gibt es hier in Varanasi. Ich möchte nicht als eine von 84-tausend Kreaturen wieder geboren werden."
Ghulab, die überhaupt nicht so wirkt, als sei sie todkrank, glaubt wie AC Jha, dem Pilger an der Gangesquelle, dass der Kreislauf der Wiedergeburt nur am heiligen Fluss durchbrochen werden kann. Ghulab möchte, dass ihre Asche in den Ganges geworfen wird.
Ghulab: "Varanasi ist für mich die Erlösung. Und im Ganges fließt nicht Wasser, sondern Nektar, aus dem wir diesen Glauben saugen. Niemand weiß, wann der Tod kommt. Ich mag noch jung und fit aussehen, aber ich bin alt. Glaube mir."
Ghulab lebt in einem so genannten Sterbehaus. Eigentlich ist das Sterbehaus eher so eine Art Altersheim. Gebaut von einem mächtigen Industriellen aus Kalkutta. Hier finden Menschen wie Ghulab Ruhe. Hier können sie ihren Gebeten nachgehen. Es sind Menschen, die irgendwie genug haben vom Menschsein.
Ghulab: "Ganz ehrlich, nochmal Mensch sein ist mir zu viel. Zu viele Sorgen, zu viel Trauer. Auch wenn es manchmal Glück gibt, ist das Leben nicht immer schön."
Und wenn es auch in den nächsten Jahren nicht klappt mit dem Sterben? Ghulab lächelt.
Ghulab: "Dann komme ich einfach nach Deutschland und besuche Dich!"
Mit ihrem Lachen erinnert Ghulab ein wenig an die Einsiedlerin Bhakti am Oberlauf des Ganges, und auch ein bisschen an den Pilger AC Jha, der so todesmutig zum Gletschertor im Himalaya gewandert ist. Vielleicht ist es ja dieses Leichte, dieser spi-elerische Umgang mit Leben und Tod und das Nebeneinander von beidem, das den Ganges tatsächlich zu einem ganz besonderen Fluss macht.
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