Muster des Antisemitismus

14.01.2010
Mitte des 19. Jahrhunderts nahmen immer mehr Polen die Integration der Juden in die Eliten der Gesellschaft als Konkurrenz und Bedrohung wahr. Die Beiträge in "Der Fremde als Nachbar" dokumentieren den Blick von polnischen Politikern, Wissenschaftlern und Dichtern zu dieser Zeit.
Der Auslöser könnte banaler kaum sein. Im Jahr 1859 war das Konzert einer jungen Musikvirtuosin christlichen Bekenntnisses in Warschau schlecht besucht. Das erklärte der Musikkritiker einer bedeutenden Warschauer Tageszeitung dem Publikum mit einer jüdischen Verschwörung: Nur weil die Künstlerin Christin sei, habe man das Konzert boykottiert und zwar auf Betreiben "jenes geheimnisvollen Bundes, der sich über ganz Europa und vor allem über uns gelegt hat."

Gegen diese Darstellung protestierten einige Warschauer Juden. In der Reaktion kam es zu einer antisemitischen Kampagne in bis dahin nicht gekannter Schärfe, die als "Jüdischer Krieg" in die Annalen eingegangen ist. Immer mehr Polen nahmen nun die Integration der Juden in die Eliten der Gesellschaft als Konkurrenz und Bedrohung wahr – und erprobten dabei die Muster des modernen Antisemitismus, ähnlich wie in Deutschland und in anderen europäischen Gesellschaften jener Zeit.

Gleichwohl ist die Geschichte der Juden in Polen eine in vieler Hinsicht besondere. Das zeigt "Der Fremde als Nachbar", eine im Suhrkamp Verlag herausgegebene, 683 Seiten starke Sammlung von circa 100 Originaltexten aus dem 19. und 20. Jahrhundert im Detail. Die Texte dokumentieren den Blick von polnischen Politikern, Wissenschaftlern und Dichtern auf die Rolle einer Volksgruppe, die bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs rund zehn Prozent der Bevölkerung des Landes stellte, in den großen Städten - darunter in Warschau - sogar ein Drittel.

Der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz beschwört im frühen 19. Jahrhundert messianisch eine Schicksalsgemeinschaft der Auserwählten - der in ihrer Geschichte immer wieder vertriebenen Israeliten und der in der Gegenwart durch Russland, Österreich und Preußen ihres Staates beraubten Polen. In anderen Texten, die Guesnets Band dokumentiert, zieht Roman Dmowski, Vordenker der polnischen Nationaldemokraten und zwischen den Weltkriegen einer der einflussreichsten Politiker, in einer Weise gegen die jüdische Präsenz in Polen zu Felde, die der deutschen extremen Rechten kaum nachsteht.

Die Schriftstellerin und Widerstandskämpferin Zofia Kossak-Szczucka, bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs einer antisemitischen Politik des Staates keineswegs abgeneigt, engagiert sich unter deutscher Besatzung an führender Stelle für die Rettung von Juden und warnt die polnische Bevölkerung in der Untergrundpresse, sich in irgendeiner Form an Verbrechen gegen Juden zu beteiligen oder sie auch nur zu dulden. In der Nachkriegszeit, als das kommunistische Regime die jüdisch-polnische Geschichte alles in allem mit Schweigen belegt und zugleich, wenn es ihm nützt, antijüdische Emotionen der Bevölkerung bis hin zum Pogrom aufstachelt, kämpfen liberale Katholiken im Lande sowie Exilautoren gegen die Wirkungsmacht des Stereotyps vom jüdischen Kommunismus.

Die knapp einhundert Originaltexte, die der Historiker François Guesnet zusammengestellt hat, sind nach Epochen geordnet und mit knappen informativen Einführungstexten sowie umfangreichen Literaturhinweisen versehen; sie fassen die bedeutendsten innenpolnischen Debatten über das Verhältnis zur jüdischen Bevölkerungsgruppe seit 1800 zusammen. Sie dokumentieren eindrucksvoll die Gegensätze und die Vielfalt der Standpunkte – bis hin zu der nach der Wende einsetzenden, bis heute nicht abklingenden Kontroverse über Formen und Ausmaß des polnischen Antisemitismus einschließlich einer Mitverantwortung für den Holocaust.

"Der Fremde als Nachbar" bietet ein solides, ganz der Aufklärung verpflichtetes Fundament für das Verständnis des polnisch-jüdischen Verhältnisses in den letzen zwei Jahrhunderten – ein grundlegendes Werk auch für deutschsprachige Leser.

Besprochen von Martin Sander

François Guesnet (Hrsg.): Der Fremde als Nachbar, Polnische Positionen zur jüdischen Präsenz
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009
683 Seiten, 39,80 Euro