Muslimische Gesellschaft

Sexuelle Frustration junger Muslime

Kairo
Junge Menschen in Kairo zum Valentinstag 2016 © imago/ZUMA Press
Von Rebecca Hillauer  · 11.04.2016
Kein Sex vor und kein Sex ohne Ehe. Dieses Keuschheitsgebot gilt nach wie vor in muslimischen Gesellschaften und ist für viele mit der Hauptgrund für die sexuellen Belästigungen von Frauen in den meisten muslimischen Ländern. In Kairo hat ein Student einen Film darüber gedreht.
Mahmoud Yossry und sein Freund Mohamed sitzen am Laptop. Sie schauen den Kurzfilm an, den sie gemeinsam mit Freunden und Bekannten hier in Kairo gedreht haben. Mahmoud ist der Regisseur, Mohamed einer von mehreren jungen ledigen Männern, die über ihre sexuellen Bedürfnisse sprechen – und über eine innere Unruhe, die sie seit langem quäle: sexuelle Frustration. Frustriert sind sogar die, die mit Zustimmung der Eltern eine Freundin haben.
Mohamed: "So gut wie kein Mädchen wird ihrem Freund gestatten, vor der Ehe Sex mit ihr zu haben, sogar wenn sie verlobt sind. Wenn sie es täten und erwischt würden, wäre das ein Skandal – und eine Schande für das Mädchen."
Mahmoud: "Außerdem wäre es eine große Sünde in unserer Religion."

Wunsch nach einvernehmlichen Sex vor der Ehe

Die zwei Freunde geben zu: Sie wünschen sich einvernehmlichen Sex vor der Ehe. Aber auch sie würden nur eine Frau heiraten, die noch Jungfrau ist. Sie wollen also etwas, was sie gleichzeitig ihrer künftigen Frau nicht zugestehen. Sex ohne Trauschein ist im Islam jedoch für beide Geschlechter verboten. Wer nicht verheiratet ist, soll keusch bleiben. Mahmoud hatte auch noch nie Sex – Mohamed schon:
Mohamed: "Ich schon – aber nicht in Ägypten. Es war auch nicht richtiger Geschlechtsverkehr, sondern so eine Art Vorspiel. Wir fürchten immer gegen die Regeln unserer Religion zu verstoßen. Also habe ich beim Sex an einem Punkt gestoppt und war dann trotzdem irgendwie befriedigt. So ist es zwar nicht ganz korrekt – aber ich begehe auch nicht die große Sünde."
Mahmoud und Mohamed kennen sich seit Kindertagen. Mahmoud studiert an der Filmhochschule Kairo, Mohamed arbeitet als Ingenieur. Wie für unverheiratete Ägypter üblich, wohnen beide noch bei ihren Eltern. Sie und die anderen jungen Männer im Film trauen sich, öffentlich auszusprechen, was viele andere insgeheim denken. Im Film lachen sie oft und machen Witze – ob aus überspielter Scham oder Selbstironie, ist nicht zu erkennen.
Mohamed: "Alle Männer im Film sind gebildet. Wir folgen unserer Religion nicht 100 Prozent, leben aber auch kein gottloses Leben – haben keinen Sex oder trinken Alkohol. Wir sitzen zwischen zwei Stühlen. Die korrekte Lösung wäre Heirat. Aber nicht jeder ist zur Ehe bereit – zumindest nicht in diesem Alter."

"Die meisten Männer schauen Pornos"

Mahmoud Yossry hat seinen Film "A Man Since Long Time" genannt: "Ein Mann seit langer Zeit". Ein Verweis auf seine eigene Gemütsverfassung:
Mahmoud: "Mit 15 bin ich geschlechtsreif geworden, seitdem bin ich ein Mann und könnte Sex haben. Allmählich denke ich, vielleicht ist es nur ein Traum und es wird nie passieren."
"Die meisten Männer schauen Pornos und masturbieren, solange sie keine Frau oder Freundin haben. Da wir keinen Sex haben dürfen, denken wir andauernd an nichts anderes. Wir sehen Frauen nur noch unter dem Gesichtspunkt, wie wir Sex mit ihnen haben könnten. Und wir fangen an, sie wie Objekte zu behandeln."
In einer Szene seines Films sind Mohamed und einige Freunde zu sehen, wie sie auf der Straße junge Frauen in engen Jeans mit ihren Blicken verfolgen. In einer anderen Szene sitzen sie abends vor dem Fernseher und schauen auf MTV ein Video an, in dem sich Frauen in Bikinis räkeln.
Mahmoud: "Die meisten Männer hätten gern eine Liebesbeziehung mit einem Mädchen, wissen aber nicht, wie sie eine Freundin finden können. Weder dürfen wir ein fremdes Mädchen auf der Straße ansprechen noch haben wir platonische Freundschaften, über die wir andere Mädchen kennen lernen können. Schon in der Schule sagt man uns, dass Jungen und Mädchen nicht miteinander reden sollen. Wenn die Geschlechter einen normaleren Umgang haben dürften, würden Männer Frauen auch in ihrer Persönlichkeit wahrnehmen und mehr respektieren."
"Wir denken, bei einer Ehe ginge es nur um Sex. Und der sei wie in Pornofilmen. Unsere Generation hat den Kopf voll diesen Mülls", sagt ein junger Mann in Mahmouds Film.

Wegen Pornosucht in Behandlung

Psychologiedozenten an der American University in Kairo sagen, dass die Mehrheit ihrer männlichen Patienten aufgrund einer Pornosucht zur Therapie komme. Da Sexualkunde in den Schulen verpönt ist, Eltern vor der Aufklärung ihrer Kinder zurückscheuen, und Intimität und Zärtlichkeit in Fernseh- und Kinofilmen meist der Zensur zum Opfer fallen, sind Pornos oft die einzige Sexualaufklärung.
Mohamed: "Nach einem Porno hat man so eine Art To-Do-Liste, was man mit einem Mädchen später einmal alles machen will."
Mahmoud: "Bis dahin lähmen die ständigen Gedanken an Sex alles andere. Ich möchte mich beruflich weiterentwickeln, kann mich nicht richtig konzentrieren. Auf der Straße starre ich jedem Mädchen hinterher, auch wenn ich es nicht hübsch finde."
Mohamed: "Als ich in Europa war, habe ich viel weniger an Sex gedacht als in Ägypten, obwohl ich gar keinen Sex hatte. Der Lebensstil und die Atmosphäre dort haben mir ein sehr befriedigendes Gefühl verschafft. In Kairo sind dagegen zu viele Menschen, latente Aggressivität, Hitze und Luftverschmutzung. Das erzeugt viel Druck auf die Menschen und den Drang, sich durch Sex zu erleichtern."
Das Internet sorgt für ein Ventil – und für neue Freiheiten im postrevolutionären Ägypten. Junge Männer und auch Frauen stellen auf Online-Plattformen Artikel und Kommentare zum Thema Liebe und Sex ins Netz.
Mahmoud öffnet seinen Internetbrowser. Gemeinsam mit Mohamed surft er auf der Webseite einer angeblichen ägyptischen "Sexpertin”, bei der viele andere junge Ägypter und Ägypterinnen Rat suchen.

Sexverbot hat auch eine politische Dimension

Das außereheliche Sexverbot hat auch eine politische Dimension: Solange sich alles um die Moral dreht, bleiben die wirklichen Skandale im Hintergrund. Die tagtägliche sexuelle Belästigung von Frauen etwa. In einer Umfrage der Vereinten Nationen 2013 gaben 99,3 Prozent aller Ägypterinnen an, dass sie bereits sexuell belästigt worden seien.
Der bekannte ägyptische Rapper Sadat schrieb deshalb einen Song. Der Titel ist zugleich seine Botschaft: "Ich kann mit Frauen flirten, aber ich werde sie nie belästigen."
Mohamed: "Nach der Revolution fingen einige Leute an zu propagieren, Sex ohne Trauschein sei normal. In Ägypten ist das jedoch die Meinung einer verschwindenden Minderheit. Die Einstellungen zur Sexualität sind so tief verwurzelt in der Gesellschaft, dass es dauern wird, bis sich daran wirklich etwas ändern wird."
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