Musiktheater in Hamburg

Sprachverwirrung mit Stadtpanorama

Von Swantje Unterberg · 14.08.2016
Hamburg ist zwar Musicalhauptstadt, aber die freie Musiktheaterszene hat es ungleich schwerer. Mit der Reihe "Stimme X" will die Szene auf sich aufmerksam machen. Dafür sorgt eine Performance im 23. Stock eines Bürohochhauses.
"23. Etage."
Hoch über den Dächern Hamburgs, in der obersten Etage eines Büroturms. Ein überwältigendes Stadtpanorama aus Fernsehturm, Messe, Dom. In der Ferne Elbe, Hafen, Elbphilharmonie, links Rathaus und Alster. Die gut 50 Zuschauer aber haben kurz vor Beginn der Performance "LTE Babylon" nur noch Augen für die Kreuzung am Fuße des Hochhauses.
"Sie werden an dieser Kreuzung fünf orange gekleidete Menschen sehen, die die Performance um 18 nach beginnen," erklärt der Sounddesigner Jan Dietrich, der das Stück gemeinsam mit dem Dramaturgen und Komponisten Manfred Scharfenstein entwickelt hat.
Fast gleichzeitig heben die fünf Schauspieler weit unten an der Kreuzung einen Arm, führen die Hand ans Ohr und nehmen mit ihren Mobiltelefonen Verbindung auf, hoch zum 23. Stock.
Aus fünf Boxen bricht es über die Zuschauer oben herein. Erst ist nur das Klingeln zu hören, dann der Atem der Teilnehmer, der Wind in den Handys. Dann beginnt die babylonische Sprachverwirrung, eine Klangcollage.
"So wollen wir uns einen Namen machen" – "Und die ganze Erde hatte ein- und dieselbe Sprache" – "Eine Sprache haben wir alle" – "Mülleimer" – "Laterne"…
Die Schauspieler zerstreuen sich in der Stadt, berichten fortlaufend, was sie sehen, unterbrochen nur von Bibelzitaten. Schon bald verschwinden sie aus dem Blick, tauchen ein zwischen den Häuserzeilen. Die Zuschauer bleiben im 23. Stock zurück, allein mit dem Klanggewirr aus den Lautsprecherboxen. Die Verlorenheit in der Stadt, sie steht, sinnbildlich, auch für die freie Musiktheaterszene.

Hamburg fehlt ein Ort für Musiktheater

"Einen richtigen Ort, wo prononciert Musiktheater stattfindet, gibt es in Hamburg nicht", sagt Hans-Jörg-Kapp, Professor für Dramaturgie und Regie an der Hochschule Hannover und freier Musiktheaterregisseur in Hamburg.
Gemeinsam mit Frank Düwel hat er die Reihe "Stimme X" gegründet. Vier verschiedene Stücke werden in diesem Sommer gezeigt. Um die freie Szene in Hamburg zu vernetzen, um sie wieder hör- und sichtbar zu machen.
Dabei war Hamburg einst maßgeblich für das zeitgenössische Musiktheater, sagt Kapp. In den 70ern und 80ern etwa dank des Komponisten György Ligeti, Professor an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater, der durch sein Orchesterwerk "Atmosphères" in Stanley Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum" einem breiteren Publikum bekannt wurde.
Und dank des damaligen Intendanten der Hamburger Staatsoper, Rolf Liebermann, der als Experimentierraum die "Opera Stabile" gründete, "die erste Studiobühne überhaupt", so Kapp. Doch Ende der 90er schloss sich das Haus laut Hans-Jörg Kapp wieder für die freie Szene.

"Stimme X" war ein Protest

"Der Impuls, Stimme X zu gründen, entstammt schon auch einem politischen Unmut. Damals stellte sich auch schon dieses Spielortproblem, und da haben wir als freie Szene auch durchaus mal interveniert und gesagt, so, jetzt öffnet dieses Haus für uns. Aus diesem Impuls ist dann die Gründung von Stimme X entstanden, weil wir gesagt haben, wir können jetzt hier nicht nur Protest machen, sondern lasst uns doch wirklich zeigen, was Hamburg kann, gerade im freien Musiktheaterbereich."
Im Winter 2014/15 wurden die ersten Stücke im Rahmen der Reihe aufgeführt, ausgewählt von einer Jury aus Komponisten, Choreographinnen, Regisseurinnen und Dramaturgen. Mit dem zweiten Durchlauf etabliert sich das Projekt. Die Stadt fasse Vertrauen, sagt Kapp, das schlage sich auch in der Fördersumme der Kulturbehörde nieder und öffne den Raum zum Experimentieren.
"Zeitgenössisches Musiktheater kann sich nicht nur auf Kammeroper beschränken, das muss sich größer denken, das muss sich auch in andere Musikstile reinbewegen."
Im Rahmen der Reihe werden klassische Werke dekomponiert und mit Elektrosamples versetzt, verbindet sich Pop mit Traditionellem.

Sprachverwirrung im 23. Stock

Bei "LTE Babylon" wiederum trifft der Mobilfunkstandard LTE auf einen religiös besetzen Begriff. Die Sprachverwirrung im 23. Stock verlangt den Zuhörern einiges ab. Schon nach 15 Minuten ist das Stimmengewirr, sind die Umgebungsgeräusche kaum mehr zu ertragen. Man wünscht sich Ruhe, möchte mindestens vier der fünf Lautsprecher zum Schweigen bringen, klammert sich an einzelne Klänge, an das Schnattern der Schwäne an der Alster etwa.
Den Lärm vom Volksfest möchte man ausblenden, die Redundanz der Ortsmarken, den Mülleimer, Laternen. Die Botschaft des Stückes, permanent online, doch ohne miteinander zu kommunizieren, sie wird schmerzhaft bewusst. Nach fast einer Stunde tauchen die Schauspieler als orangefarbene Punkte wieder zwischen den Häuserschluchten auf, sammeln sich an der Kreuzung und zitieren babylonische Verse.
Die Stimmen nur mehr ein Brei. Der Schluss bringt Ruhe. Und weckt nun selbst fast religiöse Empfindungen: Erlösung.
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