Musiktheater

Die Ötztaler gestern und heute

Szene aus "La Wally" in Mannheim mit der Hauptdarstellerin Ludmila Slepneva sowie Bartosz Urbanowicz (links) und Roy Cornelius Smith
Szene aus "La Wally" in Mannheim mit der Hauptdarstellerin Ludmila Slepneva sowie Bartosz Urbanowicz (links) und Roy Cornelius Smith © Nationaltheater Mannheim / Foto: Hans Jörg Michel
Von Frieder Reininghaus · 24.10.2014
Den in Tirol spielenden Roman "Die Geier-Wally" kennen viele, die darauf basierende Oper von 1892 nur Spezialisten. Tilman Knabe hievt den Stoff in Mannheim aus dem heimatbündischen Kontext zu den Höhenflügen und Abstürzen der real existierenden Geierwelt von heute.
Alfredo Catalanis "La Wally", 1892 an der Scala in Mailand uraufgeführt, basiert auf Wilhelmine von Hillerns in Tirol handelndem Roman "Die Geier-Wally" und ist eine Oper zum Antörnen. Das beginnt schon mit dem Ort der Handlung, der im italienischen Original "Hochstoff" heißt (gemeint ist wohl Höchsthof in Tirol). Dort herrschen patriarchalische Sitten, klar definierte Ehrenverhältnisse zwischen den Geschlechtern und stürmische Leidenschaften. Es geht um die Selbstverwirklichung von Wally, der Tochter des reichen Stromminger. Unerbittlich ist die Dorfgemeinschaft und sie in ihr – wie auch die Bergeinsamkeit. Die Liebe "erfüllt" sich erst, ein Jahrhundert der Opernliebestode resümierend, als Wally dem sie (zu spät) heimsuchenden wahren Geliebten, den vor ihren Augen eine Lawine erfasst, in den weißen Tod nachspringt.
Was lässt sich mit dieser Geschichte und ihrem Rührpotential heute noch anfangen?
"Viel!", ruft Tilman Knabes Inszenierung. Es zeigt sich erst einmal, dass und wie sich das Ötztal in den 1960er-Jahren eines behaglich-modernen Wohlstands zu erfreuen begann. Johann Jörg stattete das Wohnzimmer, in dem der unter Strom stehende Stromminger seinen 70. feiert, mit den landesüblichen Geweihen an der Wand aus und mit Panoramafenster. Hinter ihm dürfen die Bergeshöhen angenommen werden (um die aber genauer zu sehen, ist es schon zu dunkel). Die Tochter sitzt in ihrem mit Jaffa-Anbauprogramm ausstaffierten Jungmädchenzimmer unterm Plakat von Che Guevara. Ins bedingt feierliche Geschehen greift sie erst ein, als der von ihr zumindest leicht bewunderte Rocker Hagenbach mit seiner Bande aufkreuzt, Ärger macht und mit dem Gastgeber in Streit gerät. Man schreibt ja auch dem Vater seiner potentiellen Braut nicht "Nazi" ans Fenster!
Kampf gegen das Patriarchat
Die Heldin bricht aus und auf zum urbanen gesellschaftlichen Tumult. Wochenschauausschnitte von 1967 signalisieren, was damals auf der Höhe der Zeit war: Th. W. Adorno, Rudi Dutschke, Friederike Hausmann im Galaopernkleid über dem soeben erschossenen Benno Ohnesorg, der Räuberhauptmann Baader zusammen mit der Cannstatter Pfarrerstochter Ensslin, die Sozialarbeiterin Meinhof und das Demo-Transparent "Kampf dem Patriarchat". Das Springer-Hochhaus an der Berliner Kochstraße markiert den Gipfel, den es womöglich zu erringen galt.
Mit dem zweiten Akt rückt die Produktion von 1967 in etwa zum Jahr 1989 vor. Wally ist nach dem Tod des Vaters nach Hochstoff zurückgekehrt, in dessen Geschäft und Fußstapfen eingestiegen, dem Alten mentalitätsmäßig sehr ähnlich geworden. Beim Firmenjubiläum lässt sie sich mit dem inzwischen auch schon ein wenig arrivierten (und mit Afra verlobten) Hagenbach auf den "Kusstanz" ein – und wird vor den Augen der Belegschaft gedemütigt. Sie verpflichtet Gellner als Handlanger ihrer mörderischen Rache.
Wie singt sich diese Gemengelage aus Leidenschaft, Stolz und Dickköpfigkeit? Ludmilla Slepneva ist eine in den Höhen wuchtige, aber nicht immer mit präzise geführter Stimme begnadete Wally, deren mittlere und warm timbrierte tiefe Lagen umso vorteilhafter zu goutieren sind. Die Wandlungsfähigkeit von der rotzigen, aber doch für den angegriffenen Vater eintretenden Göre zur selbstbewussten Jungunternehmerin, zur zynischen Konzernherrin und schließlich zur alkohol-, medikamenten- und drogenabhängigen Alten ist bemerkenswert. Und dass sie sich aus der oberen Firmenetage leibhaftig ins Sprungtuch der Feuerwehr stürzt, unterstreicht die Bereitschaft, den handfest veristischen Zuschnitt der Produktion mitzutragen. Roy Cornelius Smith, als Rocker-Brutalo eine völlig stimmige Figur, singt entsprechend zupackend und kann eben auch mit der Kehle zuschlagen.
Konsequentes Ende in der Gegenwart
Der dritte Akt spielt nochmals 15 Jahre später, also zu Beginn des neuen Jahrtausends. Die Heldin, nun Vorstandvorsitzende der Wally-AG, hält unangefochten die Höhen der Konzernspitze und sich auch im Alltag an der Flasche mit Hochprozentigem fest. Konsequent ist das Ende in der Gegenwart: Wally stirbt, zuletzt der wahren Liebe gewahr, einen weißen Tod. Wahrscheinlich ein Cocktail aus weißen Pillen und weißem Pulver, umringt von lichten Gestalten des bedrängenden Patriarchats. Dies große Weiß ist die Lawine, die die Heldin mitreißt. Ihr Mund ist dabei, in Erinnerung an den Kuss beim Tanz, rot umkringelt. Das Haar darüber mit Brautkranz und Schleier geschmückt.
Den "musikalischen Wert" des Werks muss der Dirigent auf die Goldwaage legen. Alois Seidlmeier aber betätigt sich eher als Grob- denn als Goldschmied. Die Delikatessen des Begehrens und der Nuancen der Erinnerung lässt er kaum genutzt verstreichen, die Spannungsbögen der großen Gefühle macht er platt. Es ist, als habe er an die Trivialität der Ursprungsgeschichte erinnern wollen, die Tilman Knabe doch zu ihrem großen Vorteil aus dem heimatbündischen tiroler Kontext von 1875 zu den Höhenflügen und Abstürzen der real existierende Geierwelt von heute hievte.
Informationen des Nationalheaters Mannheim zur Inszenierung von "La Wally"