Musik-Zensur in der Sowjetunion

Röntgenbilder statt Vinyl- passt!

Ein Röntgenbild von einem Gebiss eines 28-jährigen Mannes hängt am 31.03.2014 in einer Zahnarztpraxis in Hannover (Niedersachsen).
Etwas Musik, ein Loch in die Mitte und das ganze kreisrund ausschneiden - fertig wäre die Röntgenschallplatte © picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte
Von Mike Herbstreuth · 18.03.2016
Eine Schallplatte die auf ein Röntgenbild gepresst wird und läuft - geht nicht? Geht wohl! In den 50er Jahren war dies in der Sowjetunion ein Weg, um die strenge Musikzensur zu umgehen. Ein Buch und ein Mini-Dokumentarfilm geben Einblick die geglückte Improvisationskunst.
Die Aufnahme rauscht, sie knackt, sie springt. Und nur wenn man ganz genau hinhört, erkennt man unter all den Störgeräuschen Bill Haleys Song "Rock Around The Clock".
Es ist keine besonders gute Aufnahme. Aber es ist eine ganz spezielle. Vor fünf Jahren ist diese Aufnahme dem britischen Musiker Stephen Coates in die Hände gefallen - auf einem Flohmarkt in St. Petersburg.
Coates:"Wir sind einfach so herumgeschlendert und kamen an einem Stand vorbei, an dem es jede Menge kurioses Zeug gab. Und da lag etwas, das sah aus wie eine gewöhnliche Röntgenaufnahme, aber sie hatte die Form einer Schallplatte - rund, mit einem Loch in der Mitte und es waren Rillen darauf. Ich habe sie gekauft und mit nach London genommen. Und da habe ich gemerkt, dass es tatsächlich beides ist - ein Röntgenbild, und eine Schallplatte. Man kann sie auf einem Plattenspieler abspielen. Darüber wollte ich mehr herausfinden und daraus wurde dann nach und nach ein Rechercheprojekt."

Die Röntgenschallplatte - Teil einer sowjetischen Subkultur

In Russland entdeckte Stephen Coates unzählige dieser Platten, bei denen die Rillen nicht in Schellack oder Vinyl, sondern in alte Röntgenaufnahmen eingraviert worden waren. Er stieß auf eine ganze sowjetische Subkultur von Musikliebhabern, die nach dem Zweiten Weltkrieg versucht hatten, die staatliche Musikzensur zu umgehen - indem sie verbotene Platten mit selbstgebauten Maschinen auf Röntgenbilder kopierten.
"Das Plastik von Röntgenbildern ist weich genug, um darauf Rillen einzugravieren. Und es ist hart genug, damit die Grammophonnadel sie auch wieder auslesen kann. Röntgenbilder waren aber auch noch aus einem anderen Grund ideal: In der Sowjetunion mussten alle Krankenhäuser ihre Röntgenaufnahmen am Ende des Jahres vernichten. Sie waren ein Sicherheitsrisiko, weil sie sehr leicht entflammbar waren. Allerdings war die Entsorgung nicht ganz einfach. Und da kamen die Bootlegger ins Spiel. Sie brauchten Grundmaterial für ihre illegalen Plattenkopien. Und die Krankenhäuser wollten unbedingt ihre Röntgenaufnahmen loswerden."
Aus dem illegalen Röntgen-Schallplattenhandel, der 1946 als Musiktausch zwischen ein paar Rock'n'Roll-Fans in Leningrad angefangen hatte, wurde ein riesiger Schwarzmarkt. Die Kopiergeräte wurden nachgebaut und die Platten verbreiteten sich in den 50er Jahren immer weiter. Moskau, Kiew, Odessa - überall florierte das Geschäft mit der verbotenen Musik. Die Soundqualität der Kopien spielte dabei keine große Rolle.
"Der Klang war viel schlechter als beim Original. Aber gut genug, um ein Gefühl für die Musik zu bekommen."
sagt Nick Markovitch im Dokumentarfilm "X-Ray Audio", den Stephen Coates über die Geschichte der Röntgenbildschallplatten gedreht hat und der gerade erschienen ist. Markovitch besitzt immer noch die Röntgenbildschallplatten aus seiner Jugend, darunter auch ein deutscher Foxtrott aus den 40er Jahren.

Keine Angst vor Gefängnisstrafen - es wird weiter gepresst

Ein anderer Protagonist von "X-Ray Audio" ist Rudy Fuchs. Er hat damals selbst jahrelang verbotene Musik wie Rock'n'Roll oder Boogie Woogie auf Röntgenaufnahmen kopiert. Ein gefährliches Geschäft. Denn der sowjetische Staat ging hart gegen das illegale Kopieren und den Verkauf von verbotener Musik vor. Auch Rudy Fuchs wurde geschnappt und musste ins Gefängnis.
Fuchs:"Nicht so lang, nur zwei Jahre. Aber lang genug für meinen Geschmack. Ein befreundeter Bootlegger war drei Mal im Gefängnis, für jeweils fünf Jahre".
Und als Fuchs wieder aus dem Gefängnis draußen war:
"Start again!"
Neue Kopiermaschine besorgen, neue Röntgenaufnahmen und Musik unter die Leute bringen - egal, welche Strafen der Staat dafür androht. Der Dokumentarfilm "X-Ray Audio" macht nachdenklich, weil er uns, im Zeitalter des Streamings, in der wir jederzeit auf jeden Song Zugriff haben, zeigt: Musik ist mehr als Unterhaltung.
Coates: "Wir leben in einer komplett anderen Zeit. Und vielleicht ist es manchmal ganz nützlich sich daran zu erinnern, dass es mal eine Zeit und eine Nation gab, in der man nur eine einzige Möglichkeit hatte, seine Lieblingsmusik zu hören: Auf einem Röntgenbild."