Musik

Die Sänger saßen im Orchester

Der Komponist Igor Strawinsky
Der Komponist Igor Strawinsky © dpa / picture alliance
Von Stefan Zednik · 26.05.2014
Es geht um die seltsame Beziehung zwischen dem chinesischen Kaiser und einer Nachtigall: Vor 100 Jahren kam Strawinskys "Le Rossignol" auf die Bühne - in einer Zwischenform von Oper, Tanz und Bewegungstheater.
"In China, weißt du ja wohl, ist der Kaiser ein Chinese, und alle, die er um sich hat, sind Chinesen. Es sind nun viele Jahre her, aber gerade deshalb ist es wert, die Geschichte zu hören, ehe sie vergessen wird."
So beginnt das Märchen von Hans Christian Andersen über die seltsame Beziehung zwischen dem chinesischen Kaiser und einer Nachtigall, ein Märchen, das den 1882 in der Nähe von Sankt Petersburg geborenen Igor Strawinsky wohl schon als Kind beeindruckt hatte. Der mächtige Herrscher hört von der wunderschön singenden Nachtigall und befiehlt, den Vogel zu suchen und in den Palast zu bringen.
Dort erfreut das Tier den Kaiser so lange, bis Konkurrenz durch eine mechanische Nachtigall – ein prächtiges Geschenk des japanischen Kaisers – auftaucht. Das technische Wunderwerk singt präziser, verlässlicher und immer gleich, worauf die echte Nachtigall sich überflüssig fühlt und entflieht. Doch die kostbare Musikmaschine leidet unter Verschleiß, und als der Tod an die Tür des Kaisers klopft, vermag sie keinen musikalischen Trost mehr zu spenden. Da wünscht sich der Kaiser nichts sehnlicher, als den echten Vogel noch einmal zu hören, dieser kehrt zurück und verlängert so das Leben des wieder genesenen Kaisers.
Russlands Volksmusik als Basis musikalischer Kreativität
Als Igor Strawinsky 1908 vom Moskauer "Freien Theater" den Auftrag zur Vertonung dieses Märchens erhielt, stand er noch am Anfang seiner Laufbahn als Komponist. Obwohl in einer musikalischen Familie aufgewachsen, hatte er zunächst Jura studiert. Gleichzeitig nahm er privaten Unterricht bei Nikolai Rimski-Korsakow, einem der führenden Opernkomponisten Russlands. Damit stand Strawinsky unter dem Einfluss jener Schule der so genannten "Gruppe der Fünf", die im Gegensatz zum westlich orientierten Tschaikowski die russische Volksmusik als Basis musikalischer Kreativität ansah.
Während Strawinsky an seinem ersten größeren Bühnenwerk arbeitet, kommt es zu einer Begegnung, die die Geschichte der Musik und vor allem des Balletts maßgeblich beeinflussen sollte. Der Impresario Sergej Djagilew wird auf den jungen Komponisten aufmerksam und bestellt bei ihm Musik für seine Compagnie. Strawinsky unterbricht die Arbeit an der Oper, in den kommenden Jahren pendelt er zwischen Paris, der Schweiz und Petersburg und schafft jene Werke, deren musikalische Sprache wie ein Affront gegen die westliche Musiktradition wirken sollte.
Übergang in die Moderne
Nach der Uraufführung von "Le sacre du printemps" 1913, einem der größten Theaterskandale in der Geschichte der Musik, macht Strawinsky sich wieder an die seit Jahren ruhende Arbeit an "Le Rossignol", der "Nachtigall", jetzt freilich unter Verwendung der in der Arbeit mit dem "Ballets Russe" erworbenen musikalischen Mittel. Der ursprüngliche Auftraggeber, das "Freie Theater Moskau" war mittlerweile in Konkurs gegangen, und so bringt Djagilew das Stück am 26. Mai 1914 in Paris heraus. Nun als Ballettpantomime, einer Zwischenform von Oper, Tanz und Bewegungstheater – die Sänger sitzen im Orchester.
Und wie das Stück, dessen Fertigstellung mehr als fünf Jahre gedauert hatte, in der Form seiner Aufführung als ein Zwitter erscheint, so wirkt auch die Musik als eine des Übergangs in die Moderne. Im ersten Akt meint man noch den alten Lehrer Rimski-Korsakow zu hören, der zweite dagegen kündet in seiner Tonsprache vom neuen, dem 20. Jahrhundert. Das Werk hat es bis heute schwer auf der Bühne. Als hochpoetisches Märchen für Kinder kaum geeignet, zudem von nicht abendfüllender Länge und mit hohem sängerischen Anspruch, ist es häufiger in einer von Strawinsky selbst geschaffenen Konzertversion zu erleben.
Dabei wirkt vor allem die Fabel wie ein Spiegel vom Vorabend des Weltenbrands, sie besitzt einen nach wie vor hochaktuellen Kern, in dem der Mensch, die Natur, die Seele auf der einen, der kalte Mechanismus der Maschine auf der anderen Seite stehen. Ein Märchen: Zumindest in ihm trägt der empfindsame Vogel den Sieg davon.