Musik der flirrenden Natur

Von Albrecht Dümling · 21.09.2010
Eine einsame Flöte spielt. Sie beginnt "leise und ausdrucksvoll" mit einem Halteton, gefolgt von einer chromatischen Abwärtsbewegung und der Rückkehr zum Ausgangspunkt. Zweimal ist diese flüchtige Pendelfigur zu hören. Takt und Tonart bleiben rätselhaft angesichts der irregulären Rhythmen und des Tritonus-Intervalls, das den Rahmen bildet. Auch Wagners "Tristan"-Vorspiel, das ebenso geheimnisvoll beginnt, beruht auf diesem Intervall. Dann wird die Bewegung ruhiger und gleichmäßiger und lässt kurz eine Melodie erkennen. Mit einem leise aufrauschenden Harfen-Glissando tritt das Orchester hinzu. Und verschwindet wieder. Stille.
Es ist ein Faun, ein elementares Lebewesen zwischen Mensch und Tier, das hier die Panflöte bläst. Den Auslöser für Debussys Komposition bildete Stéphane Mallarmés Gedicht "L’Après-midi d’un faune" aus dem Jahr 1876, das wiederum durch das Gemälde "Pan und Syrinx" von François Boucher angeregt wurde. Damit wollte Mallarmé nicht einfach die Liebesgeschichte aus den "Metamorphosen" des Ovid wiedergeben, sondern vor allem die rauschhaft-flimmernde Atmosphäre eines heißen Sommernachmittags, in dem Traum und Wirklichkeit miteinander verschmelzen.

Claude Debussy hatte zu dem Gedicht zunächst einen musikalischen Kommentar in Form einer dreisätzigen Symphonie schreiben wollen. Dann aber beschränkte er sich auf ein kurzes Vorspiel, über das er im Programmheft der Uraufführung anmerkte: "Es sind wechselnde intime Schauplätze, in deren Stimmung sich Verlangen und Träume des Faun ergehen, in der Wärme dieses Nachmittags. Dann überlässt er sich, müde der Jagd auf die furchtsam fliehenden Nymphen und Najaden, dem berauschenden Schlummer, voll endlich erfüllter Traumgelüste, im Vollbesitz der allumfassenden Natur."

Mallarmés symbolistisches Gedicht hatte durch ungewöhnliche Syntax, mehrdeutige Worte, durch Klangmalerei und wechselnde Schriftarten eine suggestive Atmosphäre geschaffen. Dem entspricht bei Debussy das Verrätseln der Grundtonart E-Dur, der häufige Wechsel der Taktart und eine mehrdeutige Form. Das viertaktige Flötenthema kehrt zehnmal wieder, aber immer in leicht veränderter Gestalt und Begleitung, manchmal auch von anderen Instrumenten gespielt. Mit dieser Kultur der Nuance zielte der Komponist auf die Veränderlichkeit der Natur, die er mehr bewunderte als die Regeln der Lehrbücher. "Die Musiker hören nur die Musik, die von geschickten Händen geschrieben ist", meinte er einmal, "niemals aber die Musik, die in der Natur lebt."

Trotz dieser Freiheiten stieß Debussys Komposition bei der Uraufführung im Dezember 1894 auf so großes Interesse, dass sie gleich wiederholt werden musste. Sogar Stéphane Mallarmé, der sonst Vertonungen seiner Gedichte ablehnte, reagierte begeistert. Diese Musik widerspreche seinem Gedicht keineswegs, sondern gehe in Feinheit, Licht und Fülle sogar darüber hinaus. In der Musikgeschichte spielt das kurze Stück eine ähnliche Schlüsselrolle wie das drei Jahrzehnte zuvor entstandene "Tristan"-Vorspiel, was Pierre Boulez bestätigte: "Die Flöte des Faun brachte neuen Atem in die Musik; was über Bord geworfen wurde, war nicht so sehr die Kunst der Entwicklung als das Formkonzept selbst, das hier von den unpersönlichen Zwängen des Schemas befreit wurde … L’après-midi d’un faune steht am Beginn der modernen Musik."