Musik aus grellen Farben

Von Roman Kern · 04.01.2013
Mithilfe selbstgebauter virtueller Maschinen verwandelt der israelische Künstler Ran Slavin Videobilder in komplexe Klangwelten. Mit unserem Autor sprach er über sein Leben, seine Musik - und über Wege zur Spiritualität.
Ein dunkler Raum. Auf einer gigantischen Leinwand zucken Bilder: Häuser, Straßen, meistens Nachtaufnahmen. Sätze legen sich über die Bilder, löschen sie zeitweise aus, bis das Bild völlig schwarz wird. Vor der Leinwand: ein schmaler Mann mit Hut. Wie in Trance bedient er zwei Laptops. Er ist ständig in Bewegung und erzeugt einen multimedialen Strudel, der das Publikum in Bann schlägt.

"Es fühlt sich irgendwie an, als wäre ich mit mir selbst in den Boxring gestiegen. Es ist völlig improvisiert. Ich weiß nicht, wie es sich anhört, weil ich nicht vorher sehe, was es für Bilder sind. Und das ist, was mich daran reizt: Es ist für mich genauso neu wie für das Publikum."

Sich unbekannten Situationen stellen: Das ist fast schon ein Lebensmotto von Ran Slavin, der vor 45 Jahren in Israel geboren wurde. Heute ist er einer der vielseitigsten Künstler seines Landes. Anfang 2012 trat er im Rahmen des Hamburger Festivals "Sounds of Israel" neben Musikern wie Noa und Avishai Cohen auf. Im Laufe der Jahre war er weltweit präsent: auf der Biennale in Venedig, auf der Ars Electronica in Linz und im Rahmen der Maerzmusik in Berlin. Ran Slavin mag die Stadt sehr und kommt seit Jahren immer wieder.

"Berlin war immer schon cool. Und es gibt Entsprechungen zu Tel Aviv. Es hat etwas mit der Ästhetik zu tun, und mit der Patina. Und es sind beides Kunst- und Kulturstädte. Von Tel Aviv nach Berlin zu kommen, das fühlt sich einfach richtig an."

Ran Slavins Arbeiten sind modern und nehmen doch häufig in irgendeiner Form das Thema Israel auf. Es hat lange gedauert, bis Ran Slavin so weit war, und sein Weg hat ihn durch die halbe Welt geführt. Alles begann, als er mit nur 15 Jahren seine Geburtsstadt Jerusalem und mit ihr seine Heimat Israel verließ.

"Während meiner Kindheit war vor allem Jerusalem unheimlich konservativ. Es gab damals weder Internet noch Computer. Es war eine Kleinstadt. Und es war dort schrecklich eng. Also habe ich die Schule aufgegeben und meinen Eltern Lebewohl gesagt. Ich habe meine Koffer gepackt und bin für drei Jahre nach London gegangen."

Hier trifft der 15-Jährige auf die rohe Energie des Punk. In den späten 70er-Jahren war diese neue und brachiale Musik von hier aus über die Welt hereingebrochen. Und als der junge Ran Slavin in London ankommt, sind schon eine Vielzahl verschiedener Strömungen aus ihr entstanden. Jeder kann jetzt auf der Bühne stehen und Musik machen. Und für einen musikbegeisterten Jungen wie Ran Slavin tut sich eine Welt unbegrenzter Möglichkeiten auf. Er will rein, will dabei sein:

"Ich habe am Anfang Gitarrenunterricht genommen. Und vor allem der frühe Blues ist bis heute wichtig für mich. Aber ich habe dann allein weitergemacht. Und heute bin ich auf keinem Instrument ein Virtuose, aber zu vielen habe ich einen intuitiven Zugang."

London ist in den 80er-Jahren der Ort für musikalische Neuentdeckungen. Es wird mit Geräuschen experimentiert und der Synthesizer erobert die Popmusik. Der Discjockey etabliert in den Clubs eine völlig andere Art von Live-Performance. London explodiert damals regelrecht. Und der junge Ran Slavin ist mitten drin.

"Ich war in vielen Bands, ich habe Punk, Post Punk, Rock und Heavy Metal gespielt. Es ging mir nicht darum, mich auf ein Genre festzulegen. Ich habe mich inspirieren lassen. Und dann geschaut, was ich davon brauchen kann. Es ist doch so: Das Neue ist immer in der ersten Phase innovativ. Ich habe mir neue Stile immer als Außenseiter angesehen. Man hat dann einen anderen Blick auf diese ganzen neuen Musikrichtungen."

1986 kehrt Ran Slavin nach Israel zurück. Er nimmt das Studium an der Bezalel Akademie in Jerusalem auf, ein Ort, der sich seit jeher Festschreibungen verweigert. In den 20er-Jahren wurde hier eine eigene Ästhetik geprägt, die den europäischen Jugendstil mit der traditionellen Kunst Syriens und Persiens verband. Und in den 30er-Jahren, als die Nazis das Bauhaus geschlossen hatten, zog es viele feinsinnige Flüchtlinge aus Deutschland hierher.

Ran Slavin beginnt, mit Video zu arbeiten, verliert aber die Musik nicht aus den Augen. Schon damals beginnt er, ein eigenes Studio aufzubauen. Anfangs ist die neue Technologie rar und teuer. Aber der Markt entwickelt sich schnell und bald haben junge Künstler alle Möglichkeiten.

"Man konnte auf einmal ein Studio für kleines Geld haben. Ich habe mir ein paar Mikrofone besorgt und einen Raum. Und ich fing an, mein eigenes Ding zu machen. Ich denke, das wird so um 1993 / 94 gewesen sein."

Er setzt erste Aufnahmen am Computer zusammen. Und schon bald verwendet er eine spezielle Software, in der man sich seine Instrumente mithilfe einer internen Programmiersprache selbst bauen kann. Er entdeckt eine Welt, in der alles möglich ist – um den Preis von harter Arbeit:

"Das Erlernen war ein langer Prozess, das Programm ist sehr komplex. Ich habe Jahre gebraucht, bis ich wusste, was ich von der Software wollte. Grundsätzlich kann damit alles zum Klang werden. Fast immer ist mein Ausgangsmaterial analog – zum Beispiel Streicher oder eine E-Gitarre. Dann manipuliere ich dieses Material. Die Möglichkeiten sind dabei unbegrenzt."

Bis heute arbeitet Ran Slavin mit dieser virtuellen Studioumgebung. Seine Musik speist sich aus zwei verschiedenen Quellen: Da sind die Klänge, die er selbst in seinem Studio aufnimmt und die durch intensive Nachbearbeitung verändert werden. Und da ist das Videomaterial, das zu einer weiteren Quelle für seine Musik wird:

"Ich bin immer mit der Videokamera unterwegs und sammle Eindrücke und Ideen. Ich habe mittlerweile eine riesige Datenbank mit Bildern aus aller Welt. Dieses Material bearbeite ich, und ich reichere es durch weitere Schichten aus anderem Videomaterial an."

Mit der Kamera fängt er die ganzen kleinen Geheimnisse ein, die er im urbanen Leben findet. Häufig ist er in der Nacht unterwegs. Bei seiner Live-Performance werden aus diesen Bildern Klänge. Dazu verwendet Ran Slavin die virtuellen Maschinen, die er sich selbst gebaut hat:

"Damit erzeuge ich aus den Bildern meine Musik. Es gibt keine Töne, die vorher aufgenommen wurden. Um ein Beispiel zu geben: Hellere Bilder erzeugen lautere und dunklere Bilder leisere Töne. Wenn sich die Textur des Bildes verändert, verändern sich die Klänge."

So entsteht eine Performance, die Ran Slavin genauso überrascht wie das Publikum. Und doch ist da eine Art Ordnung, eine Schlüssigkeit in sich als Resultat des inneren Zusammenhangs zwischen Bild und Ton. Neben dieser vielschichtigen Improvisation gibt es aber noch ein zweites Arbeitsfeld:

"Man muss unterscheiden zwischen meiner Live-Performance und den Filmen, die ich mache. Live ist alles sehr chaotisch und experimentell. Die Filme sind genau geplant und präzise geschnitten."

Es sind seine Filme, die meistens als Installation zu sehen sind. Das bekannteste Werk entstand als Arbeit für den israelischen Pavillon auf der Biennale in Venedig 2004 und ist mit der Genrebezeichnung "Experimental Triller" versehen. Der Film durchlief mehrere Versionen und wuchs im Laufe der Zeit zu den "Insomniac City Cycles" an, die seit 2009 auch auf DVD erhältlich sind. Es ist ein surrealer Traum, der in Tel Aviv und Schanghai spielt: Ein Mann befindet sich blutend in einem Parkhaus. Er ist angeschossen worden, und versucht, sich zu erinnern: Was ist geschehen? Die Bilder sind nachdenklich und fesseln den Zuschauer, gerade weil es keinen stringent erzählten Handlungsfaden gibt. Bild und Ton spielen gemeinsam die Hauptrolle in diesem Film, der seine Spannung niemals auflöst.

"Ich mag Spannung und glaube, dass sie im Sinne einer Dramaturgie wichtig ist für jede Kunst. Es ist etwas, das ich suche, besonders beim Film, aber auch in der Musik. Außerdem mag ich das Geheimnis und suche es – ob an dunklen Orten oder woanders. Manchmal tue ich Dinge und kann nicht abschätzen, was sich daraus entwickelt. Es ist das, was mich ganz besonders daran reizt: Ich suche das Geheimnis, nicht seine Auflösung."

Einer seiner neuesten Kurzfilme, "Ursulimum", führt genau das eindruckvoll vor. Der Titel ist der älteste Name Jerusalems den man in altägyptischen Aufzeichnungen fand. Ran Slavin spielt mit den vielen Schichten, die in dieser Stadt übereinander liegen. Aus aktuellen Straßenbildern der Stadt erschafft er ein unterirdisches Arkanum und nimmt den Zuschauer mit auf eine Entdeckungsreise in den geschichtlichen Untergrund:

"Es gibt da einen kleinen Jungen, der in der nahen Zukunft als Astronaut dort hinkommt, und er findet unter der Altstadt von Jerusalem ein völlig unglaubliches Bauwerk. Also gibt es da wieder diesen Menschen, in dem Fall einen kleinen Jungen, der ganz allein in einer unbekannten Umgebung ist ..."

Ein kleiner Junge in einer unbekannten Umgebung: So wie Ran Slavin damals in London. Nur, dass er sich heute auf einer anderen Reise befindet. Eine spirituelle Reise, die durch den Untergrund in längst vergangene Zeiten vorstößt. Ran Slavin schickt seinen kleinen Helden in die Unterwelt. Es ist eine Welt, die von pulsierenden Kraftfeldern dominiert wird; die Bilder sind intensiv und hypnotisch. Zusammen mit dem Klang ergeben sie eine Einheit, der man sich kaum entziehen kann.

Jerusalem, Tel Aviv - seine Heimat Israel spielt im Werk Ran Slavins eine wichtige Rolle. Das gilt auch für die musikalischen Traditionen, besonders für die Musica Mizrahit. Sie entstand, als nach dem Zweiten Weltkrieg die ersten Auswanderer in Israel eintrafen. Es war der Versuch, in der Fremde eine neue Heimat zu finden und eine Folklore zu schaffen. Diese Musik ist wie ein Fenster aus vielen bunten Glassteinen, durch das man Europa und den Orient erkennen kann.

"Es gibt diese Musik seit den 50er-Jahren in Israel, aber die Wurzeln liegen vermutlich in Tunesien oder Indien und gehen viel weiter zurück. In Israel wird das gerade sehr popularisiert und auch mit Synthesizern produziert. Mich aber hat der Rückgriff auf den Ursprung interessiert. Am Anfang war die Musik ganz frisch und unverfälscht von kommerzieller Orientierung."

Es ist auch eine Musik, die sich nicht festlegen will, und die sich sucht. Eine Musik mit vielen Gesichtern: mal traditionelle Folklore, mal Jazz und dann wieder Pop. Es ist eine Musik, wie geschaffen für Ran Slavin. Zufällig wohnt er für einige Zeit in der Nähe von Ahuva Ozeri, einer der bekanntesten Größen des Genres.

"Ahura Ozeri ist heute sehr kommerziell aber früher war sie die Königin dieser Musik. Und da dachte ich mir, ich lade sie in mein Studio ein und nehme auf, wie sie ihr Instrument spielt. Das ist ein sehr minimales Banjo, und sie spielt es auf ihrem Schoß. Diese Klänge waren dann mein Ausgangspunkt. Ich habe sie in meiner Klangwelt neu kontextualisiert und es ist eine Art Fusion westlicher und östlicher Empfindungen geworden."

Da treffen die Vergangenheit und die Gegenwart aufeinander. Und wenn Ran Slavin ins Spiel kommt, dann wird plötzlich klar, dass es die Zukunft ist, um die es geht. Vielleicht hört sich das Bulbul-Tarang bei ihm nicht ganz zufällig manchmal so an, als würde der Wind die Gesänge des Muezzin herübertragen.

"Das ist wunderbar! Manchmal klingt der Muezzin einfach großartig. Ich kann ihn immer wieder von meinem Fenster aus hören."

Und auch hier erweist sich Ran Slavin als unabhängiger Geist: Er hört die Gesänge des Muezzin. Und er kennt den religiösen Kontext. Aber er lässt sich nicht vereinnahmen. Das gleiche gilt für die Religion, in die er hineingeboren wurde:

"Ich praktiziere keine Religion im üblichen Sinn. Aber Spiritualität ist sehr wichtig für mich. Ich glaube, dass ich manchmal Musik mache, um Zugang zu meiner Spiritualität zu finden. So als würde ich eine Schleuse öffnen: Es ist wie ein Weg, der mich zu einem anderen Bewusstsein führt."

So ist die Musik bei Ran Slavin nicht auf das Hörbare begrenzt. Es geht um den schöpferischen Akt und das, was er beim Künstler auslöst. Fast möchte man es Meditation nennen. Nur dass das Ergebnis dieser Übung zurückbleibt. Es ist in der Welt und steht bereit als Ort der Versenkung, an dem inmitten der Klänge auch sehr viel Stille ist. Die Ruhe, die Ran Slavins Musik fast immer innewohnt, kann süchtig machen. Das gilt nicht nur für ihn selbst, sondern auch für jeden, der Gefallen an dieser Disziplin findet.

"Für mich ist der Vergleich zwischen Musik und einer Droge ganz offensichtlich: Musik macht, dass man sich besser fühlt. Sie ist ein sehr wichtiger Teil des menschlichen Lebens. Ohne sie wäre das Leben ein trauriger Ort. Ich will immer in Musik eintauchen, damit ich ein besserer Mensch sein kann. Das Problem bei Drogen ist: Sie sind zerstörerisch und kosten viel Geld. Musik ist der bessere Weg, an denselben Ort zu kommen."