Musenkuss und Schluckreflex

Michael Krüger im Gespräch mit Jürgen König · 29.01.2010
"Klassische Musik und Alkohol, zusammen genommen, haben mich durch manche Nacht getragen", schrieb der Schriftsteller Charles Bukowski. Seit jeher scheinen Alkohol und Literatur eine innige Beziehung einzugehen.
Jürgen König: E.T.A. Hoffmann und Heinrich Heine, Hans Fallada und Friedrich Dürrenmatt, Ernest Hemingway und Dylan Thomas, Edgar Allan Poe, William Faulkner - sie alle und viele andere Schriftsteller mit ihnen waren dem Alkohol überaus zugetan, selbst Schiller hatte angeblich eindrucksvolle Flaschenvorräte im Haus. Die Literatur hat zum Alkohol eine besonders innige Beziehung, anders als etwa die Musik oder die Kunst. Warum?

Dieser Frage widmet ARTE am Sonntag einen ganzen Themenabend, "Der Geist aus der Flasche", ab 21 Uhr. Ich begrüße zum Gespräch den Schriftsteller Michael Krüger, Mitautor des Buches "Literatur & Alkohol: Liquide Grundlagen des Buchstaben-Rausches", und Michael Krüger ist auch Geschäftsführer des Carl Hanser Verlages, kennt sich also vielleicht auch von dieser her im Umgang mit mehr oder weniger berauschten Autoren aus. Guten Tag, Herr Krüger!

Michael Krüger: Guten Tag!

König: Es lässt sich besser schreiben, wenn man dazu auch trinkt, das Über-Ich löst sich gut auf in Alkoholischem, alle Hemmungen und Ängste fallen ab - will sagen, Herr Krüger: Besteht eine geheimnisvolle Beziehung zwischen Hochprozentigem und hochwertiger Literatur?

Krüger: Na ja, man weiß zu wenig davon, ob die Autoren während des Schreibens getrunken haben. Ich glaube, es ist eher so, dass der Schriftsteller als ein, wollen wir sagen, verwundbares Kind trinkt, nicht um in einen Rausch zu kommen, der ihn dann zum Schreiben bringt, sondern umgekehrt, dass der Schriftsteller jemand ist, der den Rausch braucht, um bestimmte innere Widerstände abzubauen.

Ich glaube eben nicht, dass man während des Rausches schreibt. Es gibt Ausnahmen. Also zum Beispiel der berühmte französische Dichter Henri Michaux hat im Peyote-Rausch automatisch Texte geschrieben. Es gibt auch andere Beispiele, die das versucht haben. Nur ist das eher sozusagen aus der surrealistischen Periode der Écriture automatique, dass man versucht hat, was kommt eigentlich raus, wenn man die Barrieren des Bewusstseins niederreißt und sich im Rausch befindet.

König: Es wäre ja auch umgekehrt denkbar, dass ein Schriftsteller sozusagen dauerhaft im Rausch lebt und dann trinkt, um ruhig zu werden für den Moment des Schreibens, des Schaffens?

Krüger: Das gab es auch und gibt es auch, dass ein krankhafter Trinker in den trockenen Perioden etwas trinken muss, um sozusagen diesen inneren Block zu verflüssigen. Aber in der Regel ist es so oder war es so bei den vielen Schriftstellern, die ich sozusagen erlebt habe oder deren Biografien ich kenne, dass man vor dem weißen Papier sitzt und denkt, wie soll ich jetzt noch mal ...

König: Das schaff' ich nie.

Krüger: ... noch ein Buch schreiben, das dann natürlich besser sein muss als alle anderen Bücher davor. Wie soll ich das schaffen und bin ich überhaupt in der Lage und ist mein kleines Ego, ist das sozusagen so auspressbar, dass da noch eins rauskommt und so weiter. Und hinzu kommt natürlich, dass auch der Schriftsteller, noch dazu derjenige, der nicht so viel Erfolg hat, natürlich oft zur Flasche gegriffen hat, um seine soziale Misere zu vermindern.

König: Das heißt, da könnte man auch von einem Zusammenhang von Selbstzerstörung und künstlerischer Produktivität sprechen?

Krüger: Na ja, Selbstzerstörung ist ja natürlich immer das letzte Stadium. Zunächst mal trinken wir ja alle ganz gerne, weil es gesellig ist, weil man in einen Rausch kommt, kleinen oder großen Rausch, der einem die Zunge löst, aber das Schreiben selber, das Handwerk des Schreibens wird natürlich durch Alkohol nicht befördert, sondern eher geschwächt.

König: Können Sie uns noch einige Beispiele nennen von literarischer Produktion und der Veränderung dieses Schreibens durch Alkoholisches?

Krüger: Na ja, einer der berühmtesten Fälle ist natürlich immer Dylan Thomas, der ein wirklicher Alkoholiker war, also ein Kranker, ein krankhafter Trinker, der aber dann, wenn er gesoffen hat, tatsächlich so etwas Dionysisches kriegte, und seine unerhörten Metaphern sozusagen sind auch dem Rausch geschuldet.

Es gibt andere, die wahnsinnig darunter gelitten haben, wie zum Beispiel Uwe Johnson, der eben auch schwere Mengen intus hatte, aber ich glaube, nicht wenn er schrieb - das weiß ich nicht -, aber der sozusagen, um das Leben ertragen zu können, gewaltige Mengen gesoffen hat.

König: Gibt es Autoren, von denen man weiß, welche Texte im nüchternen Zustand geschrieben wurden und welche nicht, wo man also die Unterschiede erkennen kann?

Krüger: Ja, das gibt es wohl. Aber ...

König: Also zum Beispiel Dylan Thomas, wie hat der geschrieben, wenn er jetzt vollständig nüchtern war, wenn es das denn gab?

Krüger: Na ja, ich war nicht dabei, ich weiß nur von den Schriftstellerkollegen, die mit ihm zusammen waren, vor allen Dingen in der New Yorker Zeit, die ihn dann beobachtet haben, nicht wahr, die Zigarette in einem Mundwinkel und der andere Mundwinkel immer offen für ein Glas guten Whisky. Irgendwann ist man, wenn man viel trinkt, natürlich besoffen, und dann kann man gar nicht mehr schreiben. Aber die alte Dialektik von Rausch und Berauschtsein, das heißt von Alkoholzufuhr und gleichzeitiger dionysischer Verfasstheit ...

König: Dem Schaffensrausch.

Krüger: Ja, Schaffensrausch, das ist ja auch ein Rausch ... die existiert natürlich und die ist durch viele Rauschmittel - nicht nur Alkohol, sondern eben auch andere Drogen - angeheizt worden, und das ist seit der Antike ein fester Topos. Ob die große Literatur im Rausch entstanden ist, wage ich zu bezweifeln.

König: Welche Schriftsteller haben nie getrunken? Gibt es die?

Krüger: Na ja, nie getrunken - man weiß zum Beispiel von Kafka, dass er außerordentlich wenig getrunken hat, man weiß es von Thomas Mann, der sozusagen die Definition von Disziplin war, der morgens an seinem Schreibtisch saß und seine zwei, drei Seiten geschrieben hat, natürlich mit einem Tee oder einem Kaffee, aber das sind natürlich nicht die Rauschmittel, von denen Sie träumen.

König: In einer Umfrage der Zeitschrift "du" aus dem Jahr 1994, da wurden Gegenwartsschriftsteller befragt, und die haben fast alle gesagt, Alkohol habe keine positive Wirkung auf ihr Schreiben, der Rausch wirke sich außerordentlich störend auf ihre Arbeit aus. Nun ist diese Umfrage 15 Jahre her, eine neuere habe ich nicht gefunden, dennoch: Kann man sagen, dass unsere Literatur, wie soll man sagen, nüchterner geworden ist?

Krüger: Nein, nur die Verteufelung des Alkohols, die Verteufelung des Rauchens, die Verteufelung von Rauschmitteln durch das Bundesgesundheitsministerium hat natürlich auch bei den Schriftstellern Folgen gezeigt. Und da alle Schriftsteller zum Beispiel in Deutschland ja doch von ihrer ganzen Sozialisation her andere geworden sind - verstehen Sie, heute steht drin, geboren dann und dann, studierte da und da, promovierte da und da, habilitierte sich und schrieb nebenher Romane.

Früher hieß das: Wuchs als 18. Kind einer Wäschereifrau auf und verfiel sehr bald dem Trunk und hat aber doch die unglaublich schönen Verse geschrieben. Das heißt, seitdem Schriftstellerei ein Beruf geworden ist, hat das Trinken mächtig abgenommen.

König: Da muss ich schon lachen. Wie ist das bei Ihnen, Sie schreiben doch selber - ist Alkohol Ihnen auch in mancher Stunde beim Schreiben ein Freund?

Krüger: Nein, der Alkohol ist mein bester Freund, aber abends zum Beispiel beim Lesen. Texte zu verstehen, vor allen Dingen abends nach der Arbeit, kann man doch sehr gut mit ein bisschen Wein.

König: Dann wünsche ich Ihnen, dass das so bleiben möge. Musenkuss und Schluckreflex - über den Zusammenhang von Trinken und Schreiben, ein Gespräch mit Michael Krüger, Schriftsteller und Geschäftsführer des Hanser-Verlages. ARTE widmet dem Thema den ganzen Sonntagabend ab 21 Uhr: "Der Geist aus der Flasche - Der Schriftsteller und der Alkohol". Von Michael Krüger und Ekkehard Vaude gibt es zum Thema das Buch "Literatur & Alkohol", erschienen im Schweizer Libelle-Verlag. Herr Krüger, ich danke Ihnen!

Krüger: Bitte schön!