Museen jenseits der Norm (6)

Einzigartiges Archiv über Schicksal von Findelkindern

Das Spedale degli Innocenti in Florenz
Das Spedale degli Innocenti in Florenz © imago/Leemage
Von Thomas Migge  · 06.08.2016
Das Spedale degli Innocenti war im 15. Jahrhundert das erste Waisenhaus in Europa. Heute ist das Haus in Florenz ein Museum - und ein besonderes noch dazu: Denn viele der Exponate sind in der Mitte geteilt.
Die Nonnen gaben ihr bei der Taufe den Namen Agata. Denn an dem Tag, als die Neugeborene, in einem Bastkorb liegend und in graues Sackleinen gewickelt, vor dem Haupteingang gefunden wurde, feierte die katholische Kirche den Tag der Heiligen Agatha. Es war das Jahr 1445. Damals, an jenem feuchtkalten Tag, begann in Florenz eine einzigartige Geschichte: Agata war das erste Findelkind, das dem ersten und Jahrhunderte lang größten Waisenheim Europas anvertraut wurde, weiß Alessandra Maggi, Präsidentin des "Ospedale degli Innocenti" an der Piazza della Santissima Annunziata, im Herzen von Florenz:
"Das Institut der Unschuldigen, so der historische Name dieser Einrichtung für Findelkinder, ist ein magischer Ort, denn hier werden die Geschichten von hunderttausenden von Neugeborenen aufbewahrt. Anfang des 15. Jahrhunderts hinterließ der Geschäftsmann Francesco Datini 1000 Goldflorin zum Schaffung einer Einrichtung für Kinder, die niemand haben wollte."

Ein menschenwürdiges Ambiente für die Kinder

1000 Florin waren damals sehr viel Geld. Und so entstand einer der größten und an Kunst reichsten öffentlichen Bauten in Florenz. Das Heim für Findelkinder nebst Kirche und Krankenstation, Innenhöfen und prachtvoller Loggia ist ein Entwurf von Filippo Brunelleschi, einem der bedeutendsten italienischen Architekten und Bildhauer der Frührenaissance: große und helle Räumlichkeiten, die Ordensfrauen und Kindern ein menschenwürdiges Ambiente bieten sollten.
"Damals lebten in Florenz etwa 40.000 Bürger und es gab rund 20 Hospitäler und Heime, aber nicht eines für Findelkinder. Das Phänomen der Findelkinder war in jener Zeit, auch aufgrund der vielen Kriege und Epidemien, groß. Es war nicht die Kirche, sondern die Stadt, die die Schaffung dieser Einrichtung organisierte."
Das jetzt in einem Teil der großen Anlage eingerichtete Museum ist in seiner Art einzigartig: Es zeigt nicht nur Exponate aus fast 600 Jahren Existenz, sondern bietet auch ein Archiv, in dem der Besucher die Schicksale von mehr als einer halben Million Findelkinder nachlesen kann, die hier abgegeben wurden.
Findelkinder hatten auch in Florenz einen schweren Stand. Davon zeugen die im Archiv verwahrten Aufzeichnungen zu den Lebensberichten der Kinder. Die meisten von ihnen gehörten in ihrem Erwachsenenleben zur Unterschicht. Nur den wenigsten, vor allem nach Ende des Zweiten Weltkriegs im nun demokratischen Italien, in dem man weniger nach der sozialen Herkunft fragte, gelang der soziale Aufstieg.

Die Eltern gaben den Kindern einen halben Gegenstand mit

Historiker Stefano Filipponi, einer der Kuratoren des Archiv und des neuen Museums:
"Das Besondere an unseren Ausstellungsstücken erklärt sich durch die Geschichte dieses Ortes. Neben der Renaissancekunst, die extra für diese Einrichtung geschaffen wurde, zeigen wir jetzt auch Gegenstände, die Jahrhunderte lang in Magazinen aufbewahrt wurden: halbe Knöpfe, halbe Halsketten, halbe Fingerringe, halbe Armbänder, halbe Briefe, halbe Münzen etc. Das ist im Laufe der Zeit einiges zusammen gekommen."
Die Gründer der Einrichtung hatten entschieden, dass Findelkinder nur dann abgegeben werden können, wenn ihnen ein halber Gegenstand mitgegeben wird. Dieser halbe Gegenstand sollte den Eltern oder dem Elternteil, der gezwungen war, das Kind abzugeben, die Möglichkeit geben, es eventuell später wieder abholen zu können. Das war allerdings nur gegen Vorlage der zweiten und ergänzenden Hälfte eines bestimmten Gegenstandes möglich. In einer Zeit ohne Gentests die einzige Möglichkeit nachzuweisen, wer die rechtmäßigen Eltern waren. Die riesige Kollektion dieser halben Gegenstände - die immer auch ein Ausdruck des Zeitgeschmacks der jeweiligen Epoche sind und auch Hinweise auf die soziale Stellung der Eltern geben, über die ja sonst nichts bekannt ist - ist faszinierend.

Viele erschreckende Geschichten

In der Regel aber wurden die Findelkinder nicht mehr aus dem Institut geholt - und es war dessen Aufgabe, die vielen Neugeborenen bei Ammen oder bei Pflegefamilien unterzubringen, die sich um sie kümmerten.
"Wir verfügen über ein immenses Dokumentationsarchiv, das jetzt gescannt vorliegt: Informationen zu allen Kindern, zu den Familien, denen sie anvertraut wurden, den Ammen, den Geldausgaben, mit denen man Ammen und den Familien finanziell unter die Arme griff, und selbst zu ihrem Werdegang als Erwachsene."
In den Dokumenten des ältesten europäischen Findelkinderheims finden sich viele erschreckende Geschichten. Wie etwa die Geschichte jener Agata, dem ersten Findelkind des Florentiner "Ospedale degli Innocenti".
Agata wechselte in den ersten Monaten ihres Lebens mehrfach die Amme. Obwohl sich das Findelkinderheim um die Unterbringung der ihnen anvertrauten Neugeborenen sowie um die Finanzierung der Pflegemütter und -eltern kümmerte, interessierte man sich nicht für andere Dinge, wie etwa für die hygienischen Umstände, denen die Kleinen ausgesetzt waren. Kontrollen gab es da keine. Nur in bestimmten Fällen, wie etwa bei Agata, wenn Pflegeeltern als zu grob und unmenschlich auffielen, mussten die Kinder die Familien wechseln. Agata erlitt dieses Schicksal gleich mehrfach. Und sie überlebte es nicht: Am 22. Dezember 1445 starb sie. In den Armen ihrer vierten Amme.

"Fazit"-Sommerreihe "Sonder-Ausstellung: Museen jenseits der Norm". Vom 1. bis zum 6. August stellen wir Museen vor, die nicht unbedingt groß in der Öffentlichkeit stehen, die kurios sind, manchmal auch schräg, in jedem Fall aber ungewöhnlich.

Museen im Porträt:
1.8. Museum für das Unterbewusstsein in Wiesbaden
2.8. Museum sowjetischer Spielautomaten in Moskau
3.8. Museum für Bestattungskultur in Novosibirsk
4.8. Phallusmuseum in Reykjavik
5.8. Museum of Bad Art in Boston
6.8. Spedale degli Innocenti in Florenz