Multiple Persönlichkeitsstörung eines CIA-Agenten

Rezensiert von Pieke Biermann · 09.08.2006
In "Die kalte Legende" wird der CIA-Agent Martin Odum aufgrund seiner multiplen Persönlichkeit therapiert. Dem Leser stellt sich die Frage, welche der vielen Personen aus aller Welt und verschiedenen Zeiten alle zu Odums Persönlichkeit gehören. Dem Amerikaner Robert Littell ist damit ein Meisterstück der Gegenwartsliteratur gelungen.
Lebendig begraben von Stonewall Jackson und in letzter Minute gerettet von Robert E. Lee, legendärer kann ein Schicksal kaum sein für Kenner des amerikanischen Bürgerkriegs. Egal, ob sie mit den Konföderierten oder den Unionisten sympathisieren. Es ereilt Lincoln Dittmann, Pinkerton-Agent in Diensten der Yankees, im Dezember 1862 im konföderierten Fredericksburg enttarnt.

Er bekommt die traditionelle Zigarette zwischen die ausgetrockneten Lippen geklemmt. "Der zum Tode Verurteilte", hört er noch, "hat Anspruch auf eine letzte Zigarette." Auf Leben, solange die Asche nicht abfällt. "Der Schwerkraft und jeder Logik zum Trotz wurde sie länger als der ungerauchte Teil der Zigarette", und jetzt tönt vom Fluss der Yankee Doodle herüber. Angriff der Unionstruppen. Keine Zeit für Kleinkram. General Lee persönlich befiehlt, Dittmann an einen Baum zu fesseln. Er soll Zeuge eines der grausamsten Gemetzel des Kriegs werden und überleben.

Was wird denn das? Ein historisches Kriegsepos? Nicht wirklich. Obwohl Robert Littell einer der raren wirklich geschichtsbewussten Schriftsteller ist. Obwohl sein bisher letzter Roman, der im Original schlicht und präzis "Legends" heißt, vom wirklichen Krieg handelt. Und obwohl er nicht zufällig Züge eines Epos’ hat: eines Helden-Epos von heute, wo Krieg aus asymmetrischen Gewaltakten besteht und Identitätsstörung zur Grundausstattung des Einzelnen und der Gesellschaft gehört.

Die zitierte Episode steht auf Seite 346 des 440 Seiten starken Romans. Mit einer fast identischen Szene fängt er an. Die allerdings spielt 1993 in einem Dorf zwischen Moskau und St. Petersburg, in dem Lawrentij Berija früher seine Datsche hatte und heute ein Oligarch residiert. Hier bekommt einer, der offenbar Kafkor heißt und Spion ist, von jemandem, der offenbar Samat Ugor-Schilow heißt, die letzte Zigarette verpasst.

Ein paar Seiten und vier Romanjahre später wird ein kleiner Privatschnüffler namens Martin Odum in Brooklyn aus der Langeweile zwischen seiner Bienenzucht und seinem echten Bürgerkriegsgewehr samt Papierpatronen gerissen. Eine Stella Kastner will, dass er den verschwundenen Mann ihrer Schwester findet. Der Mann heißt Samat Ugor-Schilow und hat Elena nach den orthodoxen Regeln der Lubawitscher geheiratet, um schnell nach Israel einwandern zu können. Nicht dass die ihn zurück will, die Ehe ist ohnehin nie "vollzogen" worden.

Aber Elena braucht den get, den Scheidungsbrief, von ihm. Lubawitscher-Regeln sind so. Der Auftrag führt Odum ins Westjordanland, in die Siedlung Qiryat Arba, wo er bei einem palästinensischen Angriff fast erschossen wird.

1989 bringt Dante Pippen, Sprengstoffexperte der IRA, in einem Dorf im Bekaa-Tal 19 angehenden Hizb’allah-Terroristen das Bombenbauen bei. Zwischendurch zeichnet er einer Hure in Beirut Lageplan und Details genau dieses Dorfs auf, das kurz darauf von Israelis angegriffen und eingenommen wird.

1994 sitzt Martin Odum, Agent der CIA, bei Dr. Bernice Treffler. Sie ist Psychiaterin und soll ihn im Auftrag der "Firma" betreuen. Diagnose: multiple Persönlichkeitsstörung. Oder in den Worten von Crystal Quest, Odums ständig zerstoßenes Eis knabbernder Chefin:

"Sie schwebten auf einer Wolke falscher Identitäten und falscher Hintergründe. Sie sind so tief in Ihre Tarngeschichten eingetaucht, dass die Buchhaltung nie genau wusste, auf welchen Namen Ihre Gehaltsschecks ausgestellt werden sollten."

Denn Martin Odum ist Dante Pippen ist Lincoln Dittmann. Ist er auch Kafkor? Ist er in Wirklichkeit jemand ganz anderes? Und wo ist der legendäre Samat, der für die einen der Wohltäter, für die anderen das Scheusal ist, den außer ihm auch alle Welt zu suchen scheint und der irgendwie mit all seinen Legenden verstrickt ist?

Die doppelte Suche führt praktisch überall hin, wo es heute kracht. In Terroristennester wie amtliche Dreckecken. Vom Libanon über das Dreiländereck Brasilien-Argentinien-Paraguay, wo der junge Bin Laden mit Hilfe der CIA hochgerüstet wird, und ein litauisches Städtchen mit Heiligenlegende bis in den vergifteten Aralsee.

Das klingt nach Kolportage und ist ein Meisterstück der Gegenwartsliteratur, denn Robert Littell geht in keine Kitsch-Falle. "Landser-Romantik" kommt nirgends auf, weil die Erzählung raffiniert durch Zeiten und Räume mäandert und mit sarkastischer Souveränität zwischen Gräuel und Groteske balanciert. Und weil fast jede Szenerie, jede Figurenanordnung Sub-Texte und Sub-Bilder aus der Wirklichkeit und den Medien aufrufen.

Wenn Dr. Treffler sich Odums Erlebnisse im Bürgerkrieg erzählen lässt, sitzt Tony Soprano vor Dr. Melfi. Der Name Kafkor erinnert ebenso wenig zufällig an Kafka, wie Pippen beim Saufen Joyce-Zitate einfallen und ein unsympathischer US-Schieber in Paraguay ausgerechnet Streeter heißt. Vor allem aber weht durch Littells "Legends" kein Hauch von "Auf der Suche nach dem verlorenen Ich". Für seine Figuren ist Identitätssuche längst ein Anachronismus aus dem letzten Jahrhundert, allen voran für den multiplen Odum & Co.

Robert Littell hat mit seinem fünfzehnten Roman das narrative Paradigma des 20. Jahrhunderts ins 21. überführt, die Detektivfigur. Wirklich legendär.

Robert Littell, Die kalte Legende
Roman, Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmerman
Scherz Verlag, Frankfurt/Main 2006
440 Seiten, 19,90 Euro