Moskauerin, Jüdin, Russin, Deutsche, Wahlberlinerin

Von Vera Block · 06.09.2012
Marianna Salzmann gilt als einer der Shootingstars des deutschsprachigen Theaters. Und 2012 ist ihr Jahr: Bereits vier Premieren hat die 27-jährige Autorin gefeiert. Darüber hinaus wurde die russischstämmige Jüdin dieses Jahr mit dem renommierten Kleist-Förderpreis ausgezeichnet.
"Normalerweise nehme ich gemischte Nüsse, weil sie sehr salzig sind und sehr lange halten... mit Sonnenblumen, Mandeln, Cashewnüssen, Haselnüssen: alles!"

Marianna Salzmann mustert die mit Nüssen gefüllten Schalen in der meterlangen Auslage. In diesen türkischen Laden kommt sie mindestens drei Mal die Woche - seit Jahren. An den Wänden Kupferstiche, in der Ecke ein Flachbildfernseher und eine Männerrunde.

"Ich hätte gerne 100 Gramm gemischte Nüsse... und 100 Gram von den Kornelkirschen, das war´s, danke schön! - Macht 3,50."

Marianna Salzmann sucht einen ruhiges Plätzchen im Raum nebenan. Kaum am Tisch angekommen, reißt sie die braunen Papiertütchen auf und greift hinein.

"Ich brauche meine tägliche Portion Nüsse... Ich brauche Nüsse wahrscheinlich weil ich Vegetarierin bin."

Die Theaterautorin trägt enge schwarze Hosen, dunkle Lederjacke mit Silbernieten und eine alte Stofftasche mit einer punkigen Sicherheitsnadel. Außer dem schwarzen Lidstrich keine Schminke im Gesicht. Die wuscheligen Locken flattern unruhig über den Schultern.

"Ich würde gerne aussehen wir Bob Dylan . Ich glaube, ich sehe so aus mit kurzen Haaren ... "

Marianna Salzmann wächst in Moskau auf. Sie ist zehn, als die Familie 1995 nach Deutschland emigriert. Alles neu - Schule, Sprache, Süßigkeiten, das Fernsehprogramm. Selbst der Name.

"Marianna Vodovosova, das ist mein Geburtsname. Unser eigentliche Name Salzmann ist zu jüdisch für Moskau, um einen Job zu bekommen in Moskau. Wenn man in Westeuropa aufwächst, denkt man, das sei zu übertrieben, das kann doch gar nicht sein. Doch - war so, ist so, wird schlimmer. Insofern haben sie einen russischen Nachnamen angenommen, der sich irgendwo in der Familie gefunden hat. Und als wir nach Deutschland kamen, haben meine Eltern den wahren Nachnamen zurück."

Marianna macht Abitur mit 1,9, geht nicht zum Abiball, weil uncool, studiert Literatur in Hildesheim und entdeckt das Theater.

"Hamlet in Hannover - das war die erste moderne Inszenierung, die ich je gesehen habe. Ich kannte das russische Theater und erst mit 16 kam ich dann ins 'crazy german theater', wo Hamlet eine Trompete über dem Kopf hatte und gekotzt hat und so. Das war der Moment, da habe gesagt: ich will Theater machen."

Heute ist sie 27, hat ein Diplom als Dramatikerin und nennt sich selbst "eine politische Autorin". Ihre Themen findet sie in den Schlagzeilen der Zeitungen. Für Marianna Salzmann sind das aber sehr persönliche Themen. Oft geht es um Migration und Toleranz. Bewegt von der Berichterstattung über den Überfall auf einen Rentner in der Münchner U-Bahn schrieb sie das Stück "Weißbrotmusik" und fragte nach rassistischen Klischees in der Integrationsdebatte. In Dänemark recherchierte sie über die europäische Migrationspolitik. Das sei überhaupt "das Thema" heute, meint sie.

"Während so was wie NSU möglich gemacht wird, während Sarrazins Buch immer noch auf der Bestsellerliste ist. Wir haben Vertreibung von Sinti und Roma aus Frankreich, Ungarn, wo jüdische Mitarbeiter aus Theatern raus gejagt wurden. Das kommt gerade über Europa."

Marianna Salzmann regt sich auf, gestikuliert. An jeder Hand trägt sie einen Ring. Ein silberner Siegelring links und einer mit schwarzem Stein rechts. Beide hat ihr die Mutter geschenkt.

"Das ist ein Knopf an ihrer Jacke gewesen als sie in meinem Alter war und sie hat es damals selber zum Ring gemacht. Und den hat sie von ihrer Großmutter, meiner Urgroßmutter, die ich auch noch kennengelernt habe und die ein genz wichtiger Mensch in unserer Familie ist."

Um drei Generationen von jüdischen Frauen geht es jetzt auch in Salzmanns Stück "Muttersprache Mameloschn". Wieder ein persönliches Thema.

"Mameloschn heißt Muttersprache - Mame ist klar und Loschn ist Zunge. Mutterzunge, Muttersprache. Aber wenn du es auf Jiddisch sagst, heißt es meist 'Jiddisch'. In dem Stück geht es um drei Generationen jüdischer Frauen, Die Oma ist eine Holocaustüberlebende, die in der DDR bei der Stasi war, Mutter ist eine Assimilierte, will einfach Deutsche sein und die Tochter in meiner Generation, die zurück will in die Kultur, um zu verstehen, um dann die Entscheidung zu treffen, ob sie sich identifiziert oder nicht."

Marianna Salzmann ist gerade selbst dabei, ihr Jüdischsein zu entdecken. Zum Glück seien ihre geliebten Nüsse koscher, lächelt sie und schüttelt die letzten Krümel aus der Tüte in den Mund. Denn ihre Heimat hat Marianna Salzmann - Moskauerin, Jüdin, Russin, Deutsche, Wahlberlinerin - hier gefunden - zwischen einem türkischen Nussladen, einer libanesischen Modeboutique und einer italienischen Bücherei - mitten in Berlin-Kreuzberg.

"Das ist die einzige Stadt, die ich mir vorstellen kann. Mein Aspekt ist nicht die Coolness, sondern ich habe ein Problem mit einem feststehenden Staat. Mit einer festgelegten Sprache, mit angeblichen Normen. Und in Berlin habe ich das Gefühl, das ist Niemandsland. Es gibt eigene Gesetze und wenn sie gebrochen werden, dann bleibe ich ruhig."
Mehr zum Thema