Mord und Totschlag im Zeichen der Religion

Moderation: Dieter Kassel · 10.03.2011
Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Religionsfreiheit heißt Heiner Bielefeldt. Sein Job für die UNO ist ein Ehrenamt. Trotzdem ist der Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg täglich im Einsatz für das Recht aller Menschen, das zu glauben, was sie wollen.
Dieter Kassel: Seit 25 Jahren gibt es einen Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Religionsfreiheit und Weltanschauung, und in diesem Vierteljahrhundert mussten alle, die damit beschäftigt sind, doch lernen – wenn sie es nicht schon vorher gewusst haben –, dass Religionsfreiheit ein Begriff ist, den man, je nach Kultur und Erdgegend, durchaus unterschiedlich interpretieren kann.

Wie geht man damit um und welche Möglichkeiten hat ein solcher Sonderberichterstatter überhaupt? Darüber wollen wir jetzt mit dem aktuellen Amtsinhaber sprechen, dem deutschen Professor für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Universität Erlangen-Nürnberg, Heiner Bielefeldt. Er ist zurzeit in Genf, wo er an einer Sitzung des UN-Menschenrechtsrates teilnimmt, und er ist dort für uns ins Studio gegangen. Schönen guten Tag, Professor Bielefeldt!

Heiner Bielefeldt: Ja, guten Morgen, Herr Kassel!

Kassel: Wie ist das denn nach 25 Jahren, wenn man das so allgemein sagen kann, in dieser Zeit, seit es einen Sonderberichterstatter gibt, hat da die Anzahl der Einschränkungen und Verletzungen von Religionsfreiheit eher zu- oder abgenommen?

Bielefeldt: Ich glaube nicht, dass man das so generell sagen kann. Was man feststellen kann in jedem Fall ist, dass die Religionsfreiheit, die übrigens auch die Weltanschauungsfreiheit einschließt, heutzutage sehr umstritten ist. Wir haben es mit einem Menschenrecht zu tun, dessen Grundlage übrigens sehr klar niedergelegt ist, das gleichwohl umstritten bleibt, sehr grundsätzlich umstritten bleibt und natürlich auch ganz massiv verletzt wird, also ein umkämpftes Recht im doppelten Sinne: Verletztes Recht, aber auch in mancher Hinsicht gibt es Streit, obwohl wie gesagt die normative Grundlage eigentlich sehr, sehr klar ist.

Kassel: Nehmen wir doch vielleicht einen aktuellen Fall aus der vergangenen Woche, der weltweit Schlagzeilen gemacht hat, die Ermordung des pakistanischen Ministers für Minderheiten, Shahbaz Bhatti. Der wurde umgebracht, ein Angehöriger der christlichen Minderheit in Pakistan, anschließend hat es in Pakistan Demonstrationen gegeben für die Mörder dieses Mannes. Es hat vorher schon Ermordungen von Nichtmuslimen in Pakistan gegeben. Was kann ein UN-Sonderberichterstatter in so einem Fall tun?

Bielefeldt: Nun, erst mal ist ganz wichtig, dass man über alle diese Dinge sehr offen und sehr klar redet. Das ist ja ein Thema, dass für ein Land wie Pakistan auch nicht ganz angenehm ist, dass in der UNO darüber gesprochen wird. Man muss sagen, es handelt sich hier um einen Mordfall, aber dahinter steht natürlich auch ein System. Es steht dahinter eine Atmosphäre massiver Intoleranz in der Gesellschaft, aber auch geschürt von politischen Kreisen. Wir haben Mordfälle, die ja zum Teil Beifall erfahren haben von Teilen der Bevölkerung.

Also, Pakistan ist eine Gesellschaft, die richtig paralysiert ist im Moment. Und das ist umso trauriger, wenn man bedenkt, dass Pakistan mal ganz woanders war, dass damals 1948 bei der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der pakistanische Außenminister ganz ausdrücklich dafür plädiert hat, Religionsfreiheit sehr stark zu verankern, auch das Recht des Religionswechsels zu verankern. Das heißt, wir haben hier ein Land, das von Krisen geschüttelt ist, die aber nicht einfach irgendwie schicksalhaft sind, sondern es ist auch politisch so gemacht oder politisch in Kauf genommen worden.

Und jetzt geht es in der Tat drum, breite Allianzen zu schmieden von Menschen, die da was gegen machen. Die UNO hat natürlich eine Menge Möglichkeiten, das Ganze zu koordinieren, auch immer wieder auf die Standards hinzuweisen, aber wichtig ist natürlich, alle substanziellen Veränderungen müssen auch von den Gesellschaften selber mitgetragen werden.

Kassel: Aber nun sagt natürlich die pakistanische Regierung, wir verurteilen das. Natürlich wollen wir die Mörder finden, dingfest machen, natürlich wollen wir nicht, dass in unserem Land Minderheiten, welcher Art auch immer, dass irgendjemand umgebracht wird. Da können Sie als Diplomat ja eigentlich nichts mehr machen, weil an sich sind sie sich dann doch schon einig.

Bielefeldt: Nun, man kann auf Hintergründe verweisen, etwa darauf, dass in Pakistan eine Blasphemiegesetzgebung existiert, die sich auszeichnet durch ganz besondere Härte. Also eine Blasphemiegesetzgebung, die die Beleidigung von Religionen, insbesondere die Beleidigung des Islams, des Propheten Mohammad unter massive Strafsanktionen stellt, gibt es auch in anderen Ländern, aber Pakistan ist diesbezüglich schon ein Land, das besonders hart in der Gesetzgebung vorgeht, nämlich sogar die Todesstrafe für manche Blasphemieakte vorsieht.

Shahbaz Bhatti war einer derjenigen – keineswegs der Einzige –, der sich dafür ausgesprochen hat, in der Öffentlichkeit diese Gesetzgebung zu verändern. Und möglicherweise war das auch mit Ursache dafür, dass er ermordet worden ist. Also hier steht dann doch die Regierung in der Pflicht. Es handelt sich nicht nur um Mordakte verirrter Individuen, sondern wir haben wirklich einen systematischen Zusammenhang, der es notwendig macht, hier auch die Regierung wirklich in die Pflicht zu bringen, die Bedingungen zu verändern. Also zum Beispiel auch diese Blasphemiegesetzgebung auf den Prüfstand zu stellen und zu verändern, am besten ganz zurückzuziehen.

Kassel: Was Religionsfreiheit bedeutet, kann man ja eigentlich sehr einfach erklären: Jeder Mensch hat das Recht, überall auf der Welt zu entscheiden, ob und welche Art von Religion er ausüben will. Eigentlich ein simpler Tatbestand, aber Sie haben ja selber schon angedeutet, so einfach ist das dann wiederum nicht, wenn es zum Beispiel im UNO-Menschenrechtsrat um die Frage der Religionsfreiheit geht. Welche Länder interpretieren denn das anders und wie interpretieren sie das dann?

Bielefeldt: Nun, jetzt wäre es ein bisschen zu simpel, wenn man sagt, es gibt soundso viel Länder, die es richtig interpretieren, und soundso viel Länder, die es falsch interpretieren. Was man sagen kann, ist, es gibt eine Tendenz, sehr stark auch bei der Organisation der islamischen Konferenz, die Religionsfreiheit ein Stück weit zu ersetzen durch eine Art Ehrschutz für Religionen, das heißt, die freiheitsrechtliche Komponente der Religionsfreiheit zurückzufahren. Die europäischen Staaten, die westlichen Staaten halten dagegen, aber wenn man da mal genauer hinschaut, gibt es auch in den europäischen Staaten eine Menge Unklarheit diesbezüglich.

Sie haben völlig recht, eigentlich ist das mit der Religionsfreiheit gar nicht so furchtbar schwierig, aber es gibt doch eine Menge Interessen, die sich dazwischenschieben und dafür sorgen, dass statt der Freiheit der Menschen – das ist ja der menschenrechtliche Ansatz – dass statt der Freiheit der Menschen dann religiöse Identitäten, religiöse Gefühle und Ähnliches geschützt werden sollen. Und das ist ein Thema keineswegs ausschließlich der islamisch geprägten Länder, sondern auch zum Beispiel bei Ländern wie Griechenland sehr stark der Fall, auch in Dokumenten des Europarats. Also wir haben da eine Menge Klarstellungen zu leisten, damit das, was eigentlich ganz einfach ist, auch wirklich zur Geltung kommt.

Kassel: Nun ist es ja nicht nur so, dass Religionsfreiheit bedeutet, Muslime lassen Christen die Freiheit, Christen lassen Hinduisten die Freiheit und so weiter, Sie haben ja schon Weltanschauung gesagt, das heißt, im Prinzip bedeutet Religionsfreiheit auch, wenn ich mir das so aussuche für mich, frei gewählte Freiheit von Religion. Ist das durchsetzbar? Man sagt, wenn jemand was anderes glaubt, ist schlimm genug, aber wenn er gar nichts glaubt?

Bielefeldt: Es gehört ganz eindeutig erst einmal dazu, und das hat beispielsweise klargestellt das Gremium, das für die Auslegung zuständig ist, der hier entscheidenden Konvention, nämlich des Pakts über bürgerliche und politische Rechte. Dieses UN-Gremium hat ganz klar gesagt, Religionsfreiheit schließt ein auch die Freiheit nicht theistischer Überzeugungen oder auch atheistischer Überzeugungen. Und es schließt auch ein die Freiheit derjenigen, die sich für religiöse Fragen nicht so interessieren.

Es ist wirklich ganz breit zu sehen. Es geht nicht darum, dass man hier ein bestimmtes Set von Religionen hat, zwischen denen Menschen dann wählen können, sondern ganz umgekehrt, Ansatzpunkt ist die Freiheit der Menschen, sich zu orientieren. Und wenn man die Freiheit ernst nimmt, weiß man, das kann zu auch recht unübersichtlichen Resultaten führen. Genau das müssen wir aber stark machen.

Kassel: Unübersichtlichkeit ist vielleicht das Stichwort: Im Menschenrechtsrat der UN sitzen 47 Nationen, Vertreter von 47 Nationen, darunter natürlich – das muss ja auch sein, sonst wäre es nicht repräsentativ – viele Vertreter muslimischer Länder. Das muss man sagen, ich erwähne das deshalb, weil dieser Rat natürlich Ihnen das Mandat erteilt, er erteilt das Mandat für den Sonderbeauftragten für Religionsfreiheit. Kann das denn funktionieren, dass man sich da auf echte Freiheit einigt? Weil Sie haben es ja schon gesagt, da hat nicht jeder die gleichen Vorstellungen.

Bielefeldt: Man muss sagen, bei aller Kenntnisnahme der Unterschiede, wir haben auch sehr klare normative Standards. Wir haben die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1948, da steht drin: Freiheit der Religion heißt auch Freiheit zum Glaubenswechsel beispielsweise. Wir haben dann völkerrechtlich verbindlich den Pakt über bürgerliche und politische Rechte, 1966. Das heißt, wir haben schon eine Grundlage auch, für Klarheit zu sorgen, aber man weiß, es ist deshalb nicht einfach, weil hier in der Tat verschiedene Interessen, verschiedene Interpretationen auch gegeneinanderstehen.

Die Widerstände kommen übrigens keineswegs ausschließlich von islamisch geprägten Ländern, das muss auch immer wieder mal gesagt werden. Da gibt es immer mal wieder auch Auflösungen von Frontlinien und manchmal überraschende Kampflinien, die man gar nicht immer erwartet hat. Wichtig ist, dass man die Welt sozusagen nicht allzu schnell einteilt in bestimmte Lager, sonst ist es von vornherein ganz hoffnungslos. Man muss versuchen, mit allen zu reden, Überzeugungsarbeit zu leisten. Und wie gesagt, klare normative Grundlagen gibt es und insofern hat man auch gute Argumente dafür.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit dem Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Religionsfreiheit, wir reden mit Professor Heiner Bielefeldt. Er ist Professor für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Universität Erlangen-Nürnberg. Das erwähne ich auch deshalb noch mal so deutlich, weil das natürlich Ihr Hauptberuf ist, das darf man nicht vergessen, das ist eine ehrenamtliche Tätigkeit, die Sie da für die Vereinten Nationen ausüben. Was heißt denn das im Alltag, wie viel Zeit haben Sie denn wirklich, um irgendetwas zu tun?

Bielefeldt: Nun, das Gute ist, ich stehe nicht allein. Das ist deshalb ein Ehrenamt, weil mit der Ehrenamtlichkeit ja auch Unabhängigkeit verbunden ist, und das ist ganz wichtig. Ich verstehe mich als unabhängig und muss deshalb auch mich nicht auf problematische Kompromisse einlassen. Es gibt sehr professionelle Unterstützung im Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf – ohne diese Unterstützung könnte man natürlich die Vielfalt der Aufgaben gar nicht erfüllen.

Es ist schon so, dass ich täglich mit diesem Mandat zu tun habe. Die Arbeit besteht darin, Briefe zu schreiben oder in Kommunikation zu treten mit Regierungen über ganz konkrete Fälle – was weiß ich, über Attacken gegen Kopten in Ägypten, über die Verhaftung von Bahá'í im Iran, über Verhaftungen, Folter von Falun-Gong-Angehörigen in China, aber auch über Diskriminierung von Zeugen Jehovas in Griechenland. Es geht außerdem dann um Länder, und es gibt dann die Berichterstattung in den Gremien der UNO, im Menschenrechtsrat, in der Generalversammlung, auch jeweils mit bestimmten Themenschwerpunkten. Jetzt steht heute an Religionsfreiheit und Schule und eine ganze Menge weitere Fragen.

Kassel: Professor Heiner Bielefeldt, der UN-Sonderberichterstatter für Religionsfreiheit und Weltanschauung, im Gespräch im Deutschlandradio Kultur. Danke fürs Gespräch!

Bielefeldt: Ganz herzlichen Dank fürs Gespräch!