Mord im Hotel

20.10.2010
In einer extravaganten Feriengesellschaft an der Atlantikküste geschieht ein Verbrechen. Mit der raffinierten Aufklärung bieten Silvina Ocampo und Adolfo Bioy Casares, ein Ehepaar aus der argentinischen Literaturavantgarde, Unterhaltung auf hohem Niveau.
Sommer 1940, irgendwo an der argentinischen Atlantikküste. Eine kleine, bunt zusammengewürfelte Gesellschaft macht Ferien in einem entlegenen Hotel: zwei Schwestern - kapriziös die eine, boshaft die andere – mit ihren betuchten Liebhabern, ein kleiner Junge, der nirgendwo dazugehört, ein tagaus tagein Patience legender Eigenbrötler. Und auch der Ich-Erzähler, ein drogensüchtiger Arzt und Möchtegern-Schriftsteller.

Der will sich endlich seiner selbst gewählten Bestimmung widmen und nach Petronius' "Satyricon" ein Drehbuch verfassen. Doch daraus wird nichts. Ein Mord geschieht. Die Ruhe ist dahin, und obwohl aus der Stadt ein Kommissar anreist, macht sich der Ich-Erzähler sogleich daran, den Fall allein zu lösen. Ermittelt wird hinter geschlossenen Türen, zumal ein tosendes Unwetter das Hotel im Sand versinken lässt. Keiner kommt mehr hinaus, die äußere Welt ist verschwunden.

Ein Krimi also, und wie es zunächst scheint, von eher simpler Sorte. Doch der erste Augenschein trügt. Der Roman stammt aus dem Jahre 1946 und liegt nun – dem Argentinien-Schwerpunkt der diesjährigen Buchmesse sei's gedankt - zum ersten Mal auf Deutsch vor. Zum Zeitpunkt seiner Entstehung war das Genre nicht mehr ganz taufrisch, doch eben noch nicht in die Jahre gekommen. Das Prinzip des "Who-dunit" hatte sich mit Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes etabliert. Und sechs Jahre zuvor hatte Agatha Christie mit "Ten little niggers" einen sensationellen Erfolg gelandet. Vermutlich kannten die Autoren jene Geschichte von den zehn armen Kerlen, die von einem mysteriösen Rächer auf eine einsame Insel gelockt werden, um nacheinander zu Tode zu kommen. Ocampo und Casares, ein Ehepaar aus der argentinischen Literaturavantgarde um Jorge Luis Borges, machen daraus ein rasant bedrohliches Kammerspiel.

Raffiniert nutzen sie die Szenerie, um eine Atmosphäre klaustrophobischer Beklemmung aufzubauen. Jeder misstraut jedem. Dafür finden sie Bilder von geradezu albtraumhafter Wucht - in den Katakombenhaften Gängen des von der Außenwelt abgeschnittenen Hauses ebenso wie bei der nächtlichen Jagd durch die Dünen. Man spürt deutlich die Handschrift der Surrealisten, die Silvina Ocampo - als de Chirico-Schülerin - aus der Malerei vertraut ist. Dass die Membran zwischen Traum und Wirklichkeit porös ist, diese Erkenntnis prägte die Stilrichtung des Magischen Realismus, als deren glanzvolle Vertreter sich das Autorenduo mit seinem einzigen Gemeinschaftsroman frühzeitig präsentiert.

Darüber hinaus machen Ocampo und Casares sich einen krachenden Spaß aus dem kriminalistischen Prinzip des "Who-dunit". Indem sie jeden aus der versammelten Gesellschaft unter Generalverdacht stellen - und abgesehen vom Opfer - jeden zum Ermittler werden lassen, demontieren sie das heroische Bild vom Detektiv. Der ist in seiner vervielfachten Spielart nichts anderes als ein armer Tropf, wenn ihm auf der Suche nach dem Täter und dessen Motiven die Welt zu einer scheinbar plausiblen Kette von Hinweisen gerät. Während diese immer wieder nur in eine Sackgasse führen, ist die Lösung schließlich viel einfacher als erwartet. Jener maliziös parodistische Zug qualifiziert den Roman des Autorenduos als würdigen Vorläufer der heute so beliebten, ironisch punktierten Variante des Kriminalromans. Der "Hass der Liebenden" hat kein bisschen Staub angesetzt. In seiner Mischung aus Komik und Grauen garantiert er Unterhaltung auf hohem Niveau.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Silvina Ocampo, Adolfo Bioy Casares: Der Hass der Liebenden
Aus dem Spanischen von Petra Strien-Boumer
Manesse Verlag, Zürich 2010, 192 Seiten, 18,95 Euro