Mord aus gutem Grund

20.11.2012
Der schwedische Autor Hjalmar Söderberg sorgte 1905 mit seinem Roman "Doktor Glas" für einen Skandal. Er beschreibt die Geschichte eines Arztes, der aus guten Gründen einen Mord begeht - und dessen Tat sich am Ende jeder Verurteilung entzieht. Nun wurde das Buch neu aufgelegt.
Lässt sich ein Mord rechtfertigen? Der schwedische Autor sorgte mit diesem grandiosen Roman 1905 für einen Skandal. Der Mann ist Allgemeinmediziner und unglückliche Frauen, die um eine Abtreibung betteln, gewohnt. Stets hat er das Ansinnen dieser verzweifelten Patientinnen abgelehnt - nicht aus moralischen oder religiösen Gründen, er fürchtet allein die juristische Verfolgung.

Doktor Glas ist ein Mann in mittleren Jahren und Junggeselle. Er lebt mit seiner Haushälterin, erinnert sich wehmütig an die eine kurze Liebe einer Mitsommernacht und lässt sich nicht von Trieben leiten. Darauf ist er stolz. Er schreibt Tagebuch, um "die Hand zu bewegen, lasse meinen Gedanken freien Lauf; schreibe, um schlaflose Zeit totzuschlagen. Warum finde ich keinen Schlaf? Schließlich habe ich kein Verbrechen begangen".

Noch nicht. Im Juni beginnen seine Aufzeichnungen, kurz vor dem ersten Schnee im Oktober enden sie. Dazwischen liegt der Mord, den der Stockholmer Arzt aus guten und reiflich überlegten Gründen begeht. Die Liebe spielt dabei eine große Rolle, aber es geht in diesem meisterhaften Roman nicht um eine Tat aus Leidenschaft.

Die junge Frau des bigotten, hässlichen Pfarrers sitzt eines Tages in seinem Sprechzimmer und bittet ihn um Hilfe. Ihr Mann ist ihr widerlich, fordert aber seine vermeintlichen Rechte ein. Vergewaltigung im Ehebett. Die Pastorengattin gesteht ihre Liebe zu einem anderen Mann und erzählt die Geschichte ihrer Eheschließung. Der Mediziner greift ein, er stellt erst der Frau eine Diagnose, die Sex verbietet, als das nicht hilft, attestiert er dem alten Pastor einen Herzfehler und schickt ihn in die Kur. Weil das aber nur Aufschub bedeutet, wird der nachdenkliche Arzt zu einem Mörder aus Überzeugung. Dass er die junge Frau inzwischen offenbar selber liebt, ändert nichts an seinen wohltätigen Motiven, denn keinen Augenblick hofft er auf Gegenliebe. Er will ihr helfen, das Glück zu finden. Dass ihr Geliebter jedoch längst anders und im Sinn seiner Karriere entschieden hat, das lässt die Geschichte, die in immer dunkler werdenden Tagen sich abspielt, tragisch enden.

Hjalmar Söderberg hatte - anders als sein Protagonist - eine unglückliche konventionelle Ehe und eine leidenschaftliche Liebe mit einer selbstständigen Frau gerade erlebt, als er diesen Roman schrieb. Sein Plädoyer gegen - wie man es modern ausdrücken würde - Sex als Machtinstrument, gegen die Unterdrückung der Frau in der Ehe, gegen bigotte Moral und Religion sorgten nach Erscheinen des Buchs für einen gehörigen Skandal.

"Doktor Glas" erzählte eine komplizierte Geschichte mit scheinbar einfachen Mitteln. Wir folgen den Gedanken des Protagonisten, sehen die Menschen, denen er begegnet, mit seinen Augen und teilen seine Reflexionen. Der Mann macht es sich nicht leicht, und dass und wie er die Tat am Ende begeht, entzieht sich jeder Verurteilung. Das ist der literarische Skandal - auch heute noch.

Besprochen von Manuela Reichart

Hjalmar Söderberg: Doktor Glas
Roman, aus dem Schwedischen übersetzt von Verena Reichel
Manesse Verlag, Zürich 2012
254 Seiten, 19,95 Euro