Monica Byrne: "Die Brücke"

Die Welt im Jahr 2068

Die Weltkugel-Plastik am Nordkap auf der norwegischen Insel Magerøya, die im Jahr 1978 aufgestellt wurde.
Man nimmt Monica Byrne die Version ihrer Zukunft ab, meint unser Kritiker. © picture-alliance / dpa / Patrick Pleul
Von Marten Hahn · 02.10.2015
Indien und China haben in "Die Brücke" den Kontinent Afrika im Jahr 2068 untereinander aufgeteilt. Der gelungene Debütroman der US-Amerikanerin Monica Byrne ist ein glaubhaftes Stück Science-Fiction für Menschen, die eigentlich keine Science-Fiction lesen.
Manchmal hilft nur weglaufen. Vor Anderen. Vor sich selbst. Vor der Welt. Vor allem, wenn man sich nicht mehr sicher ist, was man eigentlich gesehen oder getan hat. Also beginnt die Inderin Meena eine Wanderung auf dem "Trail", einer Seebrücke, die im Jahr 2068 Indien mit Afrika verbindet. Wobei das Laufen auf dieser Brücke schwierig, gefährlich und verboten ist. Denn eigentlich ist der "Trail" ein Wellen- und Solarkraftwerk. Meena nimmt die Gefahren auf sich, um den Ort aufsuchen, an dem ihre Eltern ermordet wurden: Dschibuti. Das erzählt sie sich und anderen. Doch eigentlich möchte sie nicht ankommen. Sie möchte sich verlieren.
Monica Byrnes außergewöhnlicher Debütroman "Die Brücke" ist ein maritimes Kammerspiel ohne Kammer - und ein doppelter Abenteuerroman. Neben Meenas Geschichte erzählt Byrne nämlich noch die der jungen Waisen Mariama, die von West- nach Ostafrika reist. Es ist ein Afrika, das sich die Hegemone China und Indien aufgeteilt haben.
Man nimmt ihr ihre Zukunftsvision ab
Ein realistisches Szenario? Entscheidend ist, dass man Monica Byrne, die aus Harrisburg, Pennsylvania stammt, nicht nur ihre Protagonisten abnimmt, sondern auch ihre Version der Zukunft. Das mag auch daran liegen, dass die Autorin Bio- und Geochemie studiert hat – letzteres am renommierten MIT – bevor sie mit dem Schreiben begann.
Mühelos entwirft Byrne eine Welt von Morgen. Eine Welt der Implantate, der aufblasbaren Hightech-Behausungen und Zauberöfen, die Nahrung aus Nichts herstellen. Das heißt wiederum nicht, dass Byrne ein Science-Fiction-Feuerwerk zündet. Technik und Politik halten sich bei Byrne unaufdringlich im Hintergrund, sind nur pulsierende Leinwand.
Um ihre Welt zu zeichnen, nutzt die Autorin statt dessen Figuren, die Erklärungen provozieren. Wie die kleine Mariama, der die Mitreisenden buchstäblich die Welt erklären müssen. Oder die Menschen, die Meena auf ihrer Wanderung über den "Trail" trifft: Wellenforscher, Seenomaden, Big-Wave-Surfer. Jeder liefert ein Puzzleteil.
Globale Literatur im besten Sinne
"Die Brücke" – das klingt pathetisch und technokratisch. Im Original heißt das Buch "The Girl in the Road". Das klingt nach menschlichem Maß, Zerbrechlichkeit und Reise und ist damit viel näher an dem, was der Roman liefert: Die Geschichte zweier Frauen, deren Schicksale miteinander verwoben sind, ohne, dass sie voneinander wissen.
Wanderung, Flucht, Indien, Afrika, Geopolitik: Man kann versuchen, Verbindungen zum Zeitgeschehen zu suchen. Man muss es aber nicht. Gute Literatur braucht keinen Stempel der Nützlichkeit, keine Legitimation durch das Nachrichtengeschehen. Byrne ist mit "Die Brücke" globale Literatur im besten Sinne gelungen. Und ein Stück Science-Fiction für Menschen, die eigentlich keine Science-Fiction lesen.
Desto länger Meena wandert, desto klarer wird: "Die Realität ist nicht mehr fest, sie ist zur Welle geworden." Die Wanderung wird zum Trip. Einem Trip der Erkenntnis – für Meena und damit auch für den Leser. Deswegen – egal was dazwischen kommt, die Geister der Vergangenheit oder die Wanderung über eine Seebrücke: Laufen Sie nicht weg. Lesen Sie bis zum Ende!

Monica Byrne: Die Brücke
Aus dem Amerikanischen von Irene Holicki
Heyne, München 2015
448 Seiten, 14,99 Euro