Mittelalterlicher Vater des modernen Europa

Klaas Huizing im Gespräch mit Herbert A. Gornik · 17.01.2009
Nach Ansicht des Theologen Klaas Huizing waren die Gedanken und Lehren des Reformators Johannes Calvin wichtig für die Entwicklung des europäischen Kapitalismus und der Demokratie. Calvin habe nicht nur das Zinsverbot aufgehoben, sondern in seiner Kirchenzucht Elemente repräsentativer Demokratie eingeführt, darunter auch das Moment der Transparenz.
Herbert A. Gornik: Klaas Huizing ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur in der Sendung "Religionen". Sie kündigen im Vorwort einen "TÜV für Gegenwartstauglichkeit" an. Der verspricht, spannend zu werden, denn der Reformator, vor fast 500 Jahren geboren, ist auf den ersten, vielleicht auch auf den zweiten Blick ein Modell, das schleunigst stillgelegt werden muss, denken viele. Vielleicht ist er sogar schon stillgelegt. Denn wer kennt noch Calvin, das Schicksal allerdings teilt er auch mit Homer. Wenn viele Leute nicht Homer nicht als Homer aussprechen, sondern Homer, dann denken sie an Homer Simpson. Und Calvin, da denkt man vielleicht an Calvin Klein, aber nicht mehr an den großen Calvin. Was hat ihn so unpopulär gemacht, so in die Vergessenheit verschwinden lassen?

Klaas Huizing: Zunächst einmal ist es sicherlich so gewesen, dass durch das Buch von Zweig er wirklich sehr stark unter Druck gekommen ist. Er hat eine richtige Philippika gegen den Calvin losgelassen.

Gornik: Welches Buch meinen Sie?

Huizing: Das gewissermaßen "Castellio", das Buch über die Gewalt (Castellio gegen Calvin oder ein Gewissen gegen die Gewalt, Wien 1936, Anm. d. R.), wo er vorgerechnet hat, dass Calvin den spanischen Mönch Servet auf den Scheiterhaufen geschickt hat. Und, unter uns, das ist auch theologischer Terrorismus gewesen, was Calvin an dieser Stelle gemacht hat. Das wurde abgespeichert und ist auch durch nichts zu entschuldigen.

Gornik: Und Zweig sagt im Grunde genommen, er war ein Mörder und hat es aus persönlichen Gründen getan?

Huizing: Er war ein Mörder, richtig, und aus persönlichen Gründen getan. Und wie gesagt, es ist auch Terrorismus. Ich würde auch sagen, das ist ein theologischer Terrorismus gewesen in dieser Hinsicht, vor allen Dingen, weil er an entscheidender Stelle zumindest nicht verhindert hat, dass die Röstung stattgefunden hat. Durch die Filme ist man normalerweise so eigentlich eingenommen, dass man immer denkt, die sind alle geröstet worden bei den Ketzerprozessen. Das ist historisch so nicht der Fall, sondern es war die absolute Ausnahme. In der Regel wurden die zwar leibhaftig angebunden, aber dann wurden sie mit einem Knebel entweder erstickt, oder es kam zu einem Genickbruch. Ganz selten hat es eine Röstung gegeben.

Calvin hat mehr oder minder doch darauf gedrängt, dass in diesem Fall wirklich die Röstung stattgefunden hat, wirklich ein Akt absoluter Menschenverachtung. Das ist etwas, was man auch nicht vergessen darf, was zu seiner Geschichte dazu gehört.

Das ist insofern wirklich so wahnsinnig überraschend, weil Calvin seit relativ frühen Jahren ein Anhänger der Milde war, und das passt im Grunde genommen kaum zusammen. Wenn man das Buch von Zweig gelesen hat, macht es große Schwierigkeiten zusammenzubringen, dass er in seinen Schriften immer wieder für Milde plädiert hat. Er hat sehr früh, noch bevor er Reformator war, ein Buch über die Milde geschrieben, einen Kommentar zu Senecas "De Clementia". Und in diesem Buch nähert er sich dem Autor sehr an, findet, dass das eine wichtige, wenn Sie so wollen, mentale Ausstattung des Menschen ist, sagt, es muss auch die Barmherzigkeit dazukommen. Aber das ist etwas, was ihn lebenslang wirklich begleitet hat.

Gornik: Warum hat er sich an dieses Postulat der Milde nicht selber gehalten?

Huizing: Ja, das ist in der Tat schwierig zu beantworten. Es ging dort um eine ganz zentrale Frage in der Trinitätslehre. Und das war für ihn etwas, wo er nicht meinte, verhandeln zu können. Das war etwas, wo er glaubte, dass damit die ganze, auch die Reformation auf dem Spiele stand und da ist er seinen eigenen Grundsätzen wirklich nicht treu geblieben.

Gornik: Nun hat er sich an viele Dinge offensichtlich nicht gehalten, denn er war eins sehr schroffer und, wie jetzt schon deutlich wird in unserem Gespräch, auch sehr abweisender Mann. Dennoch kommen Sie jetzt her, Theologieprofessor, unverkennbar mit niederländischem Einschlag, Klaas Huizing ...

Huizing: Ja, ich bin gelernter Niederländer, richtig.

Gornik: ... und sagen, ja, dieser Mann ist zwar so schwarz, dass er Ruß hustet, aber der Kapitalismus in der heutigen Form wäre ohne ihn gar nicht denkbar gewesen, mal ganz davon abgesehen, ob das nun ein Vorteil oder ein Nachteil ist, und Sie gehen sogar noch einen Schritt weiter und sagen, er war einer der Erzväter der Demokratie. Wie das?

Huizing: Na ja, wie gesagt, Sie müssen auch recyceln, Gedanken immer recyceln, nicht nur auf den Müllhaufen der Geschichte werfen. Diese These, dass er gewissermaßen auch für den Kapitalismus zuständig ist, ist ja die alte Max-Weber-These, der gesagt hat, nicht bei Calvin, aber bei den Generationen nach Calvin, der Geist des Kapitalismus sei von dort her zu verstehen.

Das ist relativ einfach zu erklären, da gibt es ein sehr schwieriges Gedankenkonstrukt, die sogenannte "doppelte Prädestination". Das heißt, Gott hat bereits von Anbeginn der Zeit entschieden, ob ein Mensch erwählt oder verworfen ist. Das heißt, er kann überhaupt nicht darauf einwirken, erwählt zu sein, sondern es ist alles entschieden. Und die Menschen wollten gerne wissen, ob sie, das ist ja durchaus naheliegend, zu den Erwählten oder Verworfenen zu zählen sind. Für Calvin war es ganz klar: die Mächtigkeit, die Stärke des Glaubens war das entscheidende Kriterium. Das hat sich so nicht gehalten.

Nach Calvin war die Unsicherheit weiter groß und man suchte einen anderen Hinweis darauf, ob man erwählt worden ist oder nicht. Und dann ist es so geworden, dass gewissermaßen der Erfolg, der berufliche Erfolg eine Art Indiz dafür war, dass Gott das mit großem Wohlwollen angenommen hat, dass er im Grunde genommen diejenigen, die er erwählt hat, auch hat erfolgreich werden lassen. Das ist ein Punkt.

Ein zweiter Punkt kommt dazu, dass Calvin in der Tat das Zinsverbot aufgehoben hat, und das war sehr, sehr wichtig für die Entwicklung des Kapitalismus. Das ist die eine Sache, das muss man wissen. Da würde ich sagen, das kann man, wenn man sich heute umschaut in der Welt, wirklich immer deutlich machen, dass übrigens die sehr stark calvinistisch geprägten Länder sehr viel wirtschaftlich erfolgreicher sind, da gibt es klare Daten, als etwa Länder, die streng oder weitgehendst noch mit beiden Beinen im Katholizismus zu Hause sind.

Gornik: Diese doppelte Vorherbestimmungslehre, die hat ja auch zwei noch ganz schillernde Seiten. Es ist ja Gottes Güte zuzurechnen, dass er sagt, die einen Menschen sind erwählt. Und wenn er die anderen anguckt und wenn es nach dem Prinzip von Gottes Gerechtigkeit geht, dann sind sie einfach verdammt, die sind von vornherein draußen. Ist das nicht ein unglaubliches Angstpotenzial in der Theologie, was dadurch aufgebaut wird?

Huizing: Ja.

Gornik: Wenn das so ist, dass dieses Angstpotenzial so groß ist, wie kann man denn, Sie haben gesagt, man muss alte Ideen auch recyceln und nicht auf den Müll der Geschichte werfen, aber wie kann ich denn diese Theologie entängstigen? Geht das?

Huizing: Ja, das ist in der Tat an dieser Stelle wirklich sehr schwierig, Herr Gornik. Zunächst müssen Sie sagen, von seiner Idee her ist die Lehre der doppelten Prädestination so angesetzt worden, dass sie den Menschen Angst nehmen sollte. Das heißt, derjenige, der glaubt, und das war Calvins Überzeugung, fester Glaube, ist ein eindeutiges Indiz dafür, dass man erwählt ist, der ist völlig angstfrei. Das hat sich allerdings nicht als lebenswirksam erwiesen. Und deshalb gab es in den nachfolgenden Generationen den Versuch, das an der erfolgreichen wirtschaftlichen Prosperität abzulesen. Das war gewissermaßen schon ein ernster Hinweis darauf, dass es nicht wirklich funktioniert mit der Entängstigung.

Das heißt, in diesem Punkt müssen Sie, glaube ich, ganz anders argumentieren. Da werden Sie sagen müssen, wenn eine doppelte Prädestination, dann insofern, dass man sagt, alle sind erwählt, das ist in der Struktur des Gedankens nicht sehr schwierig umsetzen.

Bei Calvin ist es vielleicht auch wichtig zu wissen, dass er zu dieser Idee im Grunde genommen genötigt wurde durch eine sehr umfassende philosophische Spekulation, dass er gesagt hat, Güte ist ein Kontrastbegriff, der sich überhaupt nur von einem schlechten her wirklich verständlich machen lässt, und ist dann zu dieser Konzeption gekommen, die übrigens, wie das dann immer so ist, wenn Sie im System sind, systemimmanent völlig schlüssig ist, dass man sagen muss, ja, kann eigentlich nur so sein, so wie er es aufgebaut hat. Das heißt, Sie müssen im System umbauen, um solch einen Gedanken so zurechtzuschnitzen, dass er nicht mehr ängstigt.

Gornik: Wir sprechen mit Klaas Huizing über sein Buch "Calvin und was vom Reformator übrig bleibt". Sie haben vorhin gesagt, er ist auch doch ein Erzvater der Demokratie. Das wirkt ja auf dem Hintergrund, dass Demokratie, wie wir sie verstehen, ein Akt der Moderne ist, zunächst mal etwas verwirrend. Wieso Erzvater der Demokratie?

Huizing: Zunächst einmal, denke ich, muss man wissen, Calvin ist einerseits ein Sohn des Mittelalters. Der steht zum Teil mit beiden Beinen im Mittelalter. Dann ist er in der Tat aber auch ein kräftigen Schritt Richtung Moderne gegangen. Er hat in der Kirchenverfassung, die er in Genf versucht hat auf den Weg zu bringen, im Grunde genommen Elemente repräsentativer Demokratie eingeführt. Es ist gerade nicht monarchisch strukturiert, das Kirchenregiment, sondern es wird auf mehrere Schultern verteilt. Es wird hinsichtlich der, wenn Sie so wollen, Begabung, der Charismen entschieden usw.

Und er hat, das ist das entscheidende Argument, wie ich finde, er hat den Gedanken der Kirchenzucht so eingesetzt, dass er sagt, es muss in einem Gemeinschaftsgefüge so etwas wie Transparenz herrschen, Offenheit. Und Kirchenzug ist das Element, diese Offenheit durchzusetzen. Das heißt, die Idee zu sagen, er ist ein Erzvater der Demokratie, versteht sich von daher zu behaupten, dass Transparenz in der Tat, wenn Sie so wollen, das zentrale Medium der Demokratie ist. Demokratie lebt davon, von Transparenz. Sie können die Nachrichten kaum einschalten, ohne dass das Wort nicht einmal fällt. Das fällt immer. Offenlegung der Gehälter usw. usw. Transparenz, also eine wirkliche Offenheit.

Das hat er gesehen, dass in bestimmten sozialen Idealen, sozialen Gruppierungen dieses Element herrschen muss. Wie das dann auch immer so ist, ich gebe das sofort zu, wenn das dann per Kirchenzucht dann durchgesetzt wird, kann das auch schon sehr belastend sein, wenn alles, auch das Private, offengelegt wird.

Gornik: War dahinter die Überlegung, Calvin sprach ja von einer brüderlichen Gemeinschaft. Das klingt ja eben nach ein bisschen auch Gleichberechtigung, nach gegenseitigem Verständnis, man soll aufeinander hören, war dahinter das Verständnis, zur Brüderlichkeit muss man auch gezwungen werden, wenn es nötig ist?

Huizing: Ja, wenn es nötig ist, muss man auch dazu langsam doch angeschoben werden. Ja, das ist es sicherlich.

Gornik: War es denn aber zwangsläufig für die Kirchenzucht, dass zum Beispiel das Lachen verboten wurde im Gottesdienst, oder, ganz prominent, das Tanzen? Was um Himmels willen war so schlimm daran in seinem Verständnis?

Huizing: Ja, da war er wie gesagt noch ein Kind des Mittelalters, das diese Form von Leibfreundlichkeit nicht in seinem Fokus stand. Ich würde mal sagen, das Schwierigste, was man am Calvinismus hat, was schwer zu verarbeiten ist, ich komme ja aus dem Calvinismus als Holländer, dass man dort nicht gerade auf eine Leibfreundlichkeit trifft. Das hängt aber, Herr Gornik, auch damit zusammen, dass er gelernter, immer wie gesagt, gelernter Stoiker gewesen ist. Und auch die Stoa war, wie Sie wissen, nicht unbedingt gerade körperfreundlich und feiertüchtig. Das hat er von dorther, denke ich, mit importiert, eine bestimmte Form von Leibfeindlichkeit. Er hat es nur, wenn Sie so wollen, umsetzen können oder die Strenge ein bisschen zurücknehmen können über die Idee der Barmherzigkeit. Das schon, Mildtätigkeit ja, aber Sexualität, Feiern, Tanzen, Lachen, das musste man auch als gelernter Calvinist woanders lernen.

Gornik: Was haben wir in Deutschland Glück gehabt, dass wir Martin Luther hatten, der sich in eine Nonne verliebt hat.

Huizing: Ja. Ja. Wenn Sie, Herr Gornik, das lesen, was der Calvin über sein Projekt einer Ehe geschrieben hat, das ist schon sehr abstrus. Es war, wenn Sie so wollen, eine reine Kopfentscheidung. Er ist ja sicherlich der Klügste der Reformatoren, der alles per Kopf entschieden hat. Er hat gesagt, zölibatär leben ist Unsinn, ist nicht biblisch, ist völliger Unsinn, also muss ich jetzt wohl irgendwie auch das Projekt umsetzen.

Gornik: Und was war seine Idee von Ehe?

Huizing: Das war, wenn Sie so wollen, eine Art Ganztagesbetreuung. Die sollte möglichst ihm das Leben erleichtern, aber ihm eher nicht zur Last fallen. Die ist dann sehr früh gestorben. Die Kinder, die zur Welt kamen, starben auch sehr früh leider. Und nachdem das Projekt zu Ende war, hat er es auch nicht wiederholt.

Gornik: Ich glaube, dieses Betreuungsmodell, das haben viele auch noch heute im Hinterkopf?

Huizing: Ja, ich fürchte.

Gornik: Wenn wir an Calvin denken, dann fällt uns alles Mögliche ein, was wir im Gespräch jetzt durchgegangen sind, die Strenge, die Unerbittlichkeit, der schwierige, sich selbst im Weg stehende, fast noch mittelalterlich verhaftete Mensch. Aber eins fällt einem nicht ein, nämlich Musik. Da denkt man eher an Martin Luther. Der komponierte, der sang und der tanzte. Aber Calvin, wissen wir heute, hat komponiert. Wie kommt das? Das war für mich, als ich das gelesen habe, so verblüffend, dass ich gedacht habe, ist das wohl richtig. Was hat er komponiert? Warum hat er komponiert? Und wie passt das zu diesem Bild von Calvin, was Sie gerade zeichnen?

Huizing: Nun gut, das sind ja vor allen Dingen die Psalmen.

Gornik: Na ja, aber immerhin.

Huizing: Immerhin, ja, immerhin. Aber wie gesagt, das war ihm schon auch sehr, sehr wichtig. Und da hatte er durchaus offensichtlich doch auch Talente. Wie gesagt, das Bild bei dem Calvin ist immer ein bisschen schräg. Der war auch nicht ganz so griesgrämig, wie der in der Tradition dargestellt wird, wie auch übrigens seine Bilder leider den Eindruck vermitteln. Wenn Sie ein Bild von Calvin und von Luther nebeneinander stellen, dann haben Sie das feierfreundliche, ein bisschen feiste, aber doch zugewandte Gesicht Martin Luthers und das andere Gesicht ist ein bisschen anorektisch, ein bisschen ausgehungert, sieht aus wie ein großes Ausrufezeichen, sodass man, wenn man die Bilder guckt, immer denkt, na ja, ein wahnsinnig fröhlicher Mensch ist er nicht gewesen. Es gibt aber auch immer wieder Hinweise, dass er in glücklichen Jahren außerhalb von Genf, den Jahren in Straßburg etwa, sehr viel mit Studenten gelebt hat und dort auch durchaus, ich will nicht sagen, nun eine Rampensau gewesen ist, aber durchaus sehr fröhlich mit den Leuten gearbeitet, gegessen, auch entsprechend dann Psalmen gesungen hat.

Gornik: Klaas Huizing war zu Gast im Deutschlandradio Kultur in der Sendung "Religionen". Sein Buch heißt "Calvin ... und was vom Reformator übrig bleibt". Es bleibt offenbar eine ganze Menge übrig. Es lohnt sich, dieses spannend geschriebene, witzig formulierte Buch zu lesen. Erschienen ist es in der Edition chrismon, hat 144 Seiten und kostet 9,90 Euro. Klaas Huizing, herzlichen Dank!