Mitleid der Mücke

19.10.2012
Fieberschübe, Schmerzen, quälende Fantasien. In ihrem ersten Roman erzählt Carmen Stephan, was ein Mensch durchmacht, wenn er Malaria hat. Die Autorin, die die Krankheit selbst durchmachte, lässt dabei auch eine Malariamücke zu Wort kommen.
In ihrem ersten Roman geht die 1974 geborene Carmen Stephan ein hohes Risiko ein. Nicht nur, dass sie ihre Hauptperson der Tortur einer sich stündlich dramatisch verschlechternden Krankheit aussetzt, sie erzählt einen Teil der Geschichte aus der Perspektive einer Malariamücke.

Am 13. Tag, dem letzten Tag der Aufzeichnung, weiß der Leser, dass die Patientin der "Naturgewalt" Tod folgen muss. Auch das Leben der Mücke ist beendet. Das klingt gewollt, ist aber die raffiniert gelungene Aufzeichnung eines Kampfes zwischen zwei Lebewesen: Insekt und Mensch.

Mit ihrem Freund war die 27-jährige Architektin an den Amazonas und zurück nach Rio de Janeiro gereist, wo ihre Symptome: Kopfschmerz, Schüttelfrost, Schwäche, Übelkeit von Ärzten in unterschiedlichen Krankenhäusern als Denguefieber fehl interpretiert wurden.

Carmen Stephans Können zeigt sich in der Beschreibung transitorischer Zustände, die während der Fieberschübe entstehen. Der Geist scheint sich vom Körper losgelöst zu haben und führt ein fantastisches Eigenleben. Dieser Schwebezustand bietet der Schriftstellerin, die selbst einmal an Malaria erkrankt war und in Rio de Janeiro gelebt hat, die Möglichkeit, das Leben in eine extreme und extrem dramatische Schwingung zu versetzen.

Der Blick, der auf die Dinge fällt, ist verrückt. In den ersten Tagen sendet das Gehirn noch Bilder der gerade beendeten Amazonasfahrt, jäh unterbrochen von bohrenden Schmerzen, doch je weiter die Krankheit fortschreitet, desto stärker greift die Patientin auf kindliche Erinnerungen zurück, vermischt mit erschreckenden Geräuschen: klackende Messer, marschierende Soldaten, Peitschen schwingende Teddybären. "Das Ich", schreibt Carmen Stephan, "ist abgeschaltet".

Die Mücke versteht die Sprache der Menschen, aber ihre Äußerungen verstehen die Menschen nicht. Sie will mit Blütenstaub die Diagnose aufschreiben, sie will ihr Opfer retten, scheitert jedoch und stellt die ontologische Frage "Wie muss ich mit euch sprechen, damit ihr mich versteht?"

Die Autorin berichtet über die Geschichte der Krankheit, ihre Entdecker und deren wissenschaftliches Vorgehen und über die Ausbeutung der Umwelt, die für die Verbreitung der Malariamücke Bedingung war. Da Carmen Stephan das Tier mit einer Empfindungsfähigkeit ausstattet, die der des Menschen nicht nachsteht, lässt sie die Mücke beim Anblick der Kranken leiden.

"Mal Aria" ist mehr als die Analyse einer Krankheit, es ist der in Romanform verfasste Bericht über einen der Realität entrückten, prekären Zustand. Das Bewusstsein koppelt sich vom Willen ab und geht eigene Wege. "Mal Aria" ist eine undogmatisch vorgetragene Kritik an den bornierten und desinteressierten Ärzten und an jedem Einzelnen, der mit den Lebewesen so umgeht, als wäre nur das menschliche Leben schützenswert.

Carmen Stephans Ton ist dabei weder pädagogisch noch besserwisserisch verurteilend. Er ist beschreibend und das in einer ruhigen und präzisen Art. Ein beeindruckendes Buch, das ein wichtiges Thema souverän und unter unterschiedlichen Aspekten behandelt.

Besprochen von Verena Auffermann

Carmen Stephan: Mal Aria
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2012
206 Seiten, 18,99 Euro.