Mit Verve gegen eine Mentalität

Rezensiert von Wolfgang Sofsky · 05.07.2009
Die gefühlte Ungerechtigkeit in diesem Land nimmt deutlich zu. Zu dieser Einschätzung kommen die Autoren Michael Hüther und Thomas Straubhaar in ihrem Buch. Darin gehen sie auf die Ursachen ein und erklären, warum sie trotzdem Chancen auf mehr Wohlstand für alle sehen.
Je näher die Wahltermine rücken, desto lauter tönen die Parolen. Klagen über soziale Ungerechtigkeit und kollektive Verarmung, über Spekulation, Globalisierung und Marktversagen gehören zum Standardrepertoire der politischen Rhetorik. Sie verstärken eine weithin verbreitete Befindlichkeit. Neben Angst und Argwohn grassiert in der Gesellschaft das Gefühl, zunehmend ins Hintertreffen geraten zu sein.

Groß ist die Empörung über unverdiente Prämien und Privilegien. Die Märkte sollen, so die populäre Forderung, von Staats wegen reguliert, unübersichtliche Entwicklungen kanalisiert, Ungleichheiten nivelliert werden. Gegen diese Mentalität schreiben Michael Hüther und Thomas Straubhaar, zwei der führenden deutschen Ökonomen, mit Verve und Scharfsinn an.

"Die deutliche Aversion gegen die Marktwirtschaft, hat eine lange Geschichte. Die Vorstellung des Marktmechanismus widerstrebt den Deutschen zutiefst, sie glauben idealistisch unverzagt daran, dass Gutes nur aus Gutem folgen könne. Noch dazu verwechseln die meisten dann auch das Gute mit der guten Absicht, was dann vollends in die Irre leitet. Für den Menschen ist die Marktwirtschaft eine permanente Störung, denn sie garantiert, dass ständig vieles oder sogar alles anders wird. In der globalisierten Welt hat sich dieser Wandel noch beschleunigt, was den, wegen der Kürze des Lebens grundsätzlich wandlungsträgen Menschen zusätzlich fordert."

Desorientierung, Untertanengeist, schwache Freiheitstradition, verspätete Modernisierung, nicht zuletzt die Erfahrung totalitärer Staatswirtschaft sind für die Autoren die historischen Ursachen, die den Menschen hierzulande den Sinn für Chancen und Selbständigkeit ausgetrieben haben. Die Folgen sind verheerend.

Statt Transparenz setzt man auf Vorschriften. Anstatt die Märkte zu öffnen und Innovationen zu fördern, nimmt man Zuflucht zu Protektionismus und verteilt, was man schon längst nicht mehr hat. Zwar hat die Ungleichheit der Einkommen weltweit zugenommen.

"Ebenso wahr ist aber auch, dass die durchschnittlichen Realeinkommen der ärmsten Bevölkerungsgruppen gestiegen sind. Ungleichheit ist relativ. Die Armen werden keineswegs ärmer, die Reichen werden nur reicher."

Wie ihre Gegner im öffentlichen Diskurs verwechseln Hüther und Straubhaar jedoch Gerechtigkeit mit sozialer Gleichheit. Das Prinzip der Egalität fordert: "Allen das Gleiche", die Gerechtigkeit aber sagt: "Jedem das Seine". Auch wenn man das Gleichheitsprinzip zu Recht für ruinös hält, so ist die Klage über Unfairness nicht dadurch zu erledigen, dass man den aktuellen Vergleich der Besitzstände kurzerhand durch einen historischen ersetzt. In Fragen der Gerechtigkeit ist jeder Vergleich irreführend.

"Statt für faire Zugangs- und Erwerbsmöglichkeiten aller Menschen auf offenen Märkten zu sorgen, versuchten Staat und Politik, eine möglichst hohe Gleichheit von Lebensbedingungen - notfalls auch gegen den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel – herzustellen. Statt Chancen zu eröffnen, wurde Geld verteilt."

Dagegen plädieren die Autoren in der Tradition des deutschen Ordoliberalismus für eine Art neuen Gesellschaftsvertrag. Zwar beruhen Gesellschaften niemals auf allgemeinen Abkommen, aber es gibt kollektive Überzeugungen, die dringend der Revision bedürfen. Ordnungspolitik hat das Individuum an die erste Stelle zu setzen, ihm zugleich aber die Haftung für sein Handeln zuzumuten.

Statt Verteilung soll der starke, schlanke Staat die Partizipation der Bürger garantieren. Freier Wettbewerb, offene Märkte für Waren, Arbeit und Kapital, Kampf gegen Marktmacht und Monopolbildung, Subsidiarität bei der sozialen Grundsicherung, Chancen zum Wieder- und Seiteneinstieg, vor allem aber Teilhabe durch lebenslange Bildung: das sind die Stichworte für ein Reformprogramm, das die Autoren der deutschen Politik verordnen möchten.

"Wenn in einer Gesellschaft der Ungleichen nicht wenigstens bei den durch den Staat verordneten Bildungsinstitutionen Chancengleichheit und Zutritt für jedermann angestrebt werden, entsteht Ungerechtigkeit, die nicht mehr hingenommen werden kann und sich im Verlauf eines Erwerbslebens zum massiven sozialen Problem summiert. Bei der Ermöglichung eines fairen Starts gibt es keine Alternative zum Staat. Wer beim Einstieg ins System Chancenungleichheiten zulässt, nimmt in Kauf, dass die nötigen Aufhol- und Korrekturmaßnahmen später nur umso schwieriger und teurer sind."

Bildung ist die erste Staatspflicht, und zwar nicht nur Berufsausbildung, sondern allseitige Befähigung zur selbständigen Lebensführung. Die Autoren sparen nicht mit konkreten Vorschlägen, aber auch sie neigen zu der in Deutschland nicht unüblichen Illusion, mit extensiver Bildung ließen sich nahezu alle Probleme lösen. Es nutzt der klügste Kopf nichts, wenn Klugheit nicht nachgefragt und honoriert wird. So ist es zuletzt dann doch wieder der Staat, der sicherstellen muss,

"dass jeder immer wieder eine faire neue Chance bekommt. Die Gemeinschaft hat die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass fehlende Partizipationschancen nicht festgeschrieben, sondern immer wieder neu eröffnet werden. Weil der Einzelne neue Chancen erhält, ist es auch gerecht, dass man ihm die Verantwortung für sein Handeln überträgt. Für das eigene Tun zu haften, ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen in Freiheit - und ohne Eingreifen des Staates - miteinander leben können."

Hüthers und Straubhaars lesenswertes Reformmanifest mündet einmal mehr in das Paradoxon aller wohlgemeinten Staatspädagogik. Indem er dem Individuum ein selbständiges Leben ermöglicht, macht sich Vater Staat am Ende überflüssig. Aber solange es ihm allein obliegt, die Chancen zur Freiheit zu eröffnen, wird er niemals überflüssig.

Das Vertrauen der Autoren in den historischen Fortschritt, in die guten Seiten aller Innovation, in den heilsamen Zwang zur Kreativität, ja sogar in die Förderung des Gemeinwohls durch Rivalität ist ungebrochen. Das ist zu schön, um wahr zu sein. Weder der Staat noch der Markt sind Institutionen der Gerechtigkeit. So sehr man dieser Streitschrift in ihrem kritischen Impetus zustimmen mag, eine Renaissance des Liberalismus setzt voraus, dass die Idee der Freiheit sich alsbald von ihren alten Illusionen verabschiedet.


Michael Hüther/Thomas Straubhaar: Die gefühlte Ungerechtigkeit. Warum wir Ungleichheit aushalten müssen, wenn wir Freiheit wollen.
Econ Verlag, Berlin 2009
Thomas Hüther/Thomas Straubhaar: Die gefühlte Ungerechtigkeit
Thomas Hüther/Thomas Straubhaar: Die gefühlte Ungerechtigkeit© Econ Verlag