Mit Schrott-DNA "Dinge besser verstehen"

Michael Lange im Gespräch mit Dieter Kassel · 07.09.2012
Genforscher haben Teile der sogenannten Schrott-DNA entschlüsselt. Doch ist der Forschungserfolg wirklich sensationell? Der Wissenschaftsjournalist versucht die neuen Erkenntnisse einzuordnen.
Dieter Kassel: Wir haben den Code des menschlichen Lebens gefunden – so hieß es in manchen Artikeln vor inzwischen schon zwölf Jahren, als der amerikanische Forscher Craig Venter das menschliche Genom entschlüsselt hatte. Komplett wurde das, was damals gefunden wurde, sogar im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" abgedruckt, und viele Laien hatten deshalb den Eindruck: Nun ja, nun ist das alles bekannt und nun gucken wir mal, was man damit anfängt! Ein bisschen ging in dieser Euphorie auch unter, dass Wissenschaftler einen Teil des menschlichen Erbguts – und zwar, wie wir seit gestern wieder wissen, einen sehr großen Teil – schlichtweg als Müll-DNA – in der Wissenschaftssprache Englisch als Junk-DNA – bezeichnet haben.

Umso überraschender war es wahrscheinlich für Laien, gestern zu erfahren, dass in dieser Müll-DNA überhaupt noch rumgesucht, geforscht wurde, und dass man jetzt festgestellt hat, dass das gar kein Müll ist, sondern dass sich darin möglicherweise genau die Informationen befinden, die man noch benötigte, um überhaupt zu verstehen, warum die Gene nicht so richtig genau das tun, was man ursprünglich von ihnen erwartet hatte.

Was ist da wirklich passiert, wie wichtig ist nun diese neue wissenschaftliche Erkenntnis, die gestern als großer Durchbruch gefeiert wurde? Und vor allen Dingen: Warum gab es bisher in der menschlichen DNA Müll? All das wollen wir jetzt klären im Gespräch mit dem Biologen und Wissenschaftsjournalisten Michael Lange, der schon sehr lang, auch schon vor dem Jahr 2000, sich mit diesen Fragen beschäftigt hat und nicht immer unkritisch kommentiert hat, was die Forschung da als Sensation verkaufen wollte. Schönen guten Morgen, Herr Lange!

Michael Lange: Morgen, Herr Kassel!

Kassel: Fangen wir doch mal mit dieser großen Frage an: Wie kommen Wissenschaftler dazu, einen Teil des menschlichen Erbguts als Müll zu bezeichnen?

Lange: Ja, das kam damals aus der damaligen Betrachtung der DNA, also unseres Genoms, unseres Erbguts. Man sah die DNA als einen langen Faden an, ist sie molekular auch, den man dekodieren kann. Man kann die einzelnen Buchstaben lesen. Und das hat man gemacht und hat so ganz viele Daten gesammelt.

Und dann hat man sich die Daten angeschaut und einige dieser Datenbereiche konnte man interpretieren. Das sind die sogenannten Gene, das sind Baupläne für Eiweiße, molekularbiologisch betrachtet. Und die hat man genau untersucht. Und dann hat man natürlich gesehen: Diese bekannten Gene machen sehr wenig aus in diesem Erbmolekül, genau genommen sind es 1,5 Prozent. Und dann hat man gesagt, na ja, was ist mit den anderen über 98 Prozent? Und dann haben, einige haben es als Wüste bezeichnet, durch diese Wüste müsse man halt durch, um zu den Städten oder den Oasen zu gelangen, und andere haben das Wort vom Junk, also vom Müll oder Schrott geprägt.

Aber es wurde eigentlich schnell auch einigen Wissenschaftlern klar, dass man diesen Schrott untersuchen muss, dass man den nicht einfach wegwerfen darf. Und das begann schon vor fünf bis sieben Jahren. Da hat man das Projekt ENCODE, also die Enzyklopädie der DNA-Elemente gegründet. Ja, und dieses große Projekt – nicht ganz so groß wie das Genom-Projekt –, das legt jetzt eine Bilanz vor.

Kassel: Um es mal klar zu machen – da habe ich auch verschiedene Zahlen gelesen, in verschiedenen Artikeln: Wie viel Prozent des menschlichen Erbguts sind denn nun wirklich die schon bekannten Gene, und wie viel Prozent ist der sogenannte Junk?

Lange: Ja, da habe ich auch unterschiedliche Zahlen auch von den Wissenschaftlern bekommen. Also, die eigentlichen Gene sind tatsächlich nur 1,5 Prozent. Man verstand schon immer etwas mehr, man verstand einige Kontrollelemente, die haben einige dazugezählt, dann kommen Sie auf zwei oder sogar auf fünf Prozent, das, was man verstehen konnte.

Und der Teil, der jetzt verstehbar ist, sind also auch noch nicht die vollkommenen 100 Prozent, also die noch fehlenden 98 Prozent, sondern das sind auch nur 80 Prozent etwa, die man jetzt verstehen kann. Aber man kann festhalten: Der ganz große Teil war unverstanden und da hat man jetzt einen Einblick ein bekommen.

Kassel: Und wie sieht dieser Einblick aus?

Lange: Ja, man findet dort viele kleine Elemente. Und diese Elemente sind Regulationselemente. Das heißt, die tragen nicht irgendwelche Baupläne, die sagen nicht irgendwas Konkretes, sondern die verschalten das eine mit dem anderen. Und die wirken teilweise nicht nur auf die benachbarten Regionen, sondern die wirken über große Bereiche des Genoms hinweg. Man muss sich ja dieses Genom, diesen riesigen Faden wirklich unendlich groß vorstellen, das sind ja sechs Milliarden Bausteine.

Und da geht es immer hin und her, es geht kreuz und quer. Weniger wie in einem Buch, das man von vorne nach hinten liest, dieses Bild von dem Buch hat sicherlich auch viele Forscher zunächst, sage ich mal, in die Irre geführt. Man kann es schon eher vergleichen mit einer Homepage im Internet, also, da kann man hin- und herschalten, man hat verschiedene Ebenen, und man kann auch von ganz weit weg in eine andere Richtung schalten. Also, es ist wirklich komplizierter, es ist nicht dieses lineare Genom, es ist ein zweidimensionales, sage ich ja mal, wie es sich jetzt darstellt. Und ich bin sicher, da gibt es auch noch eine dritte Dimension dahinter!

Kassel: Heißt das denn jetzt, wie ich als Laie sofort vermute: Alles, was Wissenschaftler bisher über Gene angenommen haben und auch was es für Ideen es schon gab, wie wir sie manipulieren können, ist damit über den Haufen geworfen?

Lange: Ja, ganz so einfach ist es nicht. Aber die Sichtweise, die die Wissenschaftler bisher für ihr Handeln, für ihr Forschen verwendet haben, war auf jeden Fall zu einfach. Ich habe in einer Wissenschaftszeitschrift ein schönes Zitat eines Genomforschers gefunden, Eric Lander, das war auch einer der führenden Genomforscher schon vor zehn Jahren: Der hat gesagt, früher haben wir einfach, bisher haben wir immer geschaut auf das Genom, wie ein Satellit auf die Erde schaut. Das ist ein ganz verwaschenes Bild, daraus kann man aber nicht schließen, wie zum Beispiel die Zivilisation auf der Erde funktioniert. Man sieht es, man staunt und sagt boah, da ist viel, aber mehr ist nicht.

Und jetzt haben wir fast schon Google-Maps, wir können sehen, wo Straßen laufen, wo Linien laufen. Das heißt immer noch nicht, dass man alles versteht, aber man hat jetzt wirklich ein viel genaueres Bild, man hat viele Elemente, die man vorher noch nicht kannte. Und Eric Lander wird zitiert mit dem Ausspruch: Ja, jetzt explodiert mir der Kopf, das verstehe ich alles nicht mehr! Also, da ist wirklich, sage ich jetzt erst mal, viel Neuland, und es ist spannend für die Wissenschaft, aber es sind auch keine einfachen Antworten!

Kassel: Wir reden heute Vormittag im Deutschlandradio Kultur mit dem Wissenschaftsjournalisten Michael Lange über die neuen Erkenntnisse, die Forscher jetzt gewonnen haben aus dem Teil des menschlichen Erbguts, den sie bisher als Junk-DNA, als Schrott-DNA bezeichnet. Herr Lange, nun haben Sie gesagt, selbst Wissenschaftlern schwirrt der Kopf, Laien ja erst recht. Aber was könnte und wird voraussichtlich diese neue Erkenntnis denn für uns alle bedeuten, auch in der angewandten Forschung?

Lange: Also, zunächst einmal muss man sagen: Auch für die angewandte Forschung gibt es erst mal neue Informationen. Man kann Dinge besser verstehen, und das neue Bild vom Erbgut ist tatsächlich so, dass man versteht, wie bestimmte Aktivitäten reguliert werden. Also, diese ganzen kleinen Abschnitte, die man jetzt gefunden hat, diese DNA-Elemente, sind Regulatoren. Und es sind drei Millionen.

Und bei den klassischen Genen hatte man 20.000. Da kann man einfach ausrechnen: Das sind also über 100 Regulatoren pro Gen. Das heißt, da ist nicht nur so ein Schalter Ein und Aus, Gen ist ein, Gen ist aus, wie man es bisher geglaubt hatte, da sind Hunderte von Schaltern, die auch untereinander verschaltet sind. Und diese Schalter funktionieren auch nicht als Ein-Aus-Schalter, sondern als Dimmer. Das heißt, die können regulieren, rauf und runter, ein bisschen mehr, ein bisschen weniger. Also, das Leben ist tatsächlich nicht digital, für die, die es noch nicht wussten, es ist tatsächlich ein ganz kompliziertes Netzwerk. Und unser Genom stellt sich jetzt so dar, wie man bisher schon wusste, dass das Gehirn aussieht.

Also, das Gehirn ist nicht nur einfache Informationssammelstelle, es ist ein vernetztes Netzwerk, was dadurch flexibel ist. Ja, und das Genom ist auch so ein Netzwerk, das ist flexibel. Und gerade das macht das Besondere am menschlichen Genom aus, dass es besonders flexibel ist. Nicht, dass es viele Informationen trägt, ist ja nicht viel mehr als bei der Fruchtfliege, sondern dass diese Vernetzung besonders gut ist. Und da können wir als Menschen durchaus wieder stolz sein auf unser Genom, und das, was die Forscher vorher gesagt haben – wir sind zwei Fruchtfliegen oder zwei Würmer – das stimmt nur von der Masse des Erbguts.

Kassel: Aber heißt das nicht auch, dass das Verständnis genetischer Ursachen von Krankheiten, geschweige denn deren Heilung, dadurch noch weiter in die Ferne gerückt wird?

Lange: Ich denke, nein. Ich denke, das Verständnis, was man bisher hatte – man konnte einige Dinge einfach verstehen oder wollte sie einfach verstehen –, war auch zu einfach. Deshalb haben viele Gentherapien, viele Erklärungsversuche, vieles Verständnis von Risikogen bisher auch nie genau gestimmt. Man hatte einfache Lösungen, aber die waren oft auch zu einfach.

Jetzt weiß man, es ist komplizierter, und man kann die besseren Lösungen finden. Das sind auch noch nicht die bestmöglichen, aber als Wissenschaftsjournalist gehe ich natürlich davon aus, dass mehr Verständnis immer besser ist, auch für einen Mediziner ist es besser, je mehr er weiß. Und hier steigt unser Wissen. Ob die Medizin dann dadurch wirklich besser wird, das versprechen die Forscher. Ich denke, das ist auch ihr Ziel.

Aber das ist ein ganz langsamer Prozess. Erst mal ist es Wissen, was hilft, ja, vielleicht auch schon mal Nebenwirkungen zu verhindern oder eben etwas gezieltere Medikamente zu entwickeln. Aber das ist ein ganz langsamer Prozess, und das Genom war sozusagen der erste Schritt, die erste Dimension. Und mit diesen ENCODE-Elementen, mit diesem komplizierten Netzwerk, wird jetzt der zweite Schritt getan.

Kassel: Einen Nebenschritt muss die Wissenschaft jetzt aber auch tun, den Begriff Junk-DNA, Schrott-DNA, kann man ja nun nicht mehr verwenden. Wie wird man diesen Teil des Erbguts in Zukunft nennen?

Lange: Oh, das ist jetzt schwierig! Also, ich denke mir mal, das ist der Steuerungsbereich. Ich habe ... Ja, vielleicht schon der Schaltraum überhaupt. Also, da ist das, wo kontrolliert wird. Das andere, die eigentlichen Gene, ist die Bibliothek vielleicht, aber eine Bibliothek alleine macht noch nichts, das ist nur ein Informationsspeicher.

In dem anderen Bereich ist der Arbeitsbereich, vielleicht ist das das Beste Wort. Da wird wirklich was gemacht, da wird reguliert, rauf und runter. Da wird entschieden, welche Gene an und welche Gene aus sind. Und das ist mindestens so wichtig wie die Frage, ob die Gene überhaupt da sind, ob sie aktiv sind. Denn Zellen und das Erbgut ist ja eine aktive Sache.

Und jetzt verstehen wir sozusagen den Arbeitsbereich in unseren Zellen drin, und wenn wir den Arbeitsbereich verstehen, verstehen wir natürlich besser, wie irgendwas funktioniert. Und das Genom ist nicht mehr diese starre Größe, die uns irgendwas vorgibt, die irgendwas determiniert, uns alles sagt, wie es sein soll, sondern jetzt ist alles lebendiger geworden. Und für die Wissenschaft und auch für mich, Sie merken es, ist das eine ganz interessante Sache!

Kassel: Manchmal liegen die Antworten auf große wissenschaftliche Fragen im Müll! Der Wissenschaftsjournalist Michael Lange war das über die teilweise Entschlüsselung der bisher sogenannten Schrott-DNA. Vielen Dank, Herr Lange!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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