Mit Müll zum besseren Leben

Von Klaus Hart · 14.02.2009
In einem von Gewalt und Misere geprägten Viertel der brasilianischen Megacity Sao Paulo, in dem häufig Schüsse fallen, führt der Franziskanerorden seit über sechs Jahren ein Müll-Recycling-Projekt namens Recifran. Dort sind über achtzig Frauen und Männer beschäftigt, die zuvor völlig verwahrlost auf der Straße hausten.
Paulo Henrique, 28 Jahre alt, steht im großen Hof des Recifran-Projekts und reißt gewaltige, teils übel stinkende Müllsäcke auseinander. Plastikflaschen, Zeitungen, Blechbüchsen, Milch-und Joghurtverpackungen - alles wird von ihm und den anderen achtzig Mitarbeitern getrennt, gebündelt oder zu Packen gepresst. Auf Handkarren wird ständig Nachschub in den Hof gefahren.

Henrique: "Wir holen das ganze Zeug aus Kaufhäusern und Geschäften oder von der Straße, bereiten es auf für die Wiederverwertung. Das hier ist ein Schulungsprojekt, wir lernen erst mal, wie es geht und schließen uns dann später einer Recycling-Kooperative an. Ich bin aus Rio de Janeiro und war wie meine ganze Familie obdachlos. In einer nahen Herberge der Franziskaner habe ich von dem Projekt gehört und dann die Stelle bekommen. Hier kriegen wir erstmal einen Mindestlohn, später in der Kooperative ist es dann mehr. So können wir ein neues Leben anfangen."

Brasiliens Mindestlohn liegt derzeit bei umgerechnet etwa 165 Euro. Die Projektlehrerin Carla Nascimento, eine Dunkelhäutige, verdient bei den Franziskanern nur etwa doppelt so viel. Sie leitet die Mitarbeiter an und schlichtet Streit.

Carla Nascimento: "Lukrativ ist das hier für mich sicher nicht, aber ich sehe diese Arbeit als einen Auftrag Gottes an, ja, als meine christliche Mission. Im Grunde zählen wir alle hier in diesem Projekt zu den gesellschaftlich Ausgeschlossenen. Es ist eine gefährliche Arbeit I– ich weiß nie, ob ich am Ende des Tages hier lebend herauskomme."

Carla Nascimento ist keine Katholikin, sondern gehört zu einer großen evangelikalen Kirche, die vielerorts in Brasilien wie eine fragwürdige Wunderheilersekte agiert:

"Ja, ich bin Pastorin in der evangelikalen Gottesversammlung und zudem Gospelsängerin. Die meisten Evangelikalen sind gegen die Katholiken, mögen sie überhaupt nicht. Und ich muss zugeben, ich war auch so. Doch die Franziskaner sind total ökumenisch und haben mich gelehrt, die Spiritualität anderer zu respektieren. Heute singe ich sogar in den katholischen Kirchen Sao Paulos - und natürlich bei den Protestdemonstrationen der Franziskaner."

Auf dem Recycling-Hof ist es heute voll wie selten, bereiten sich die Afro-Trommler des Franziskanerordens für die Caminhada pela Paz, den Friedensmarsch durch die Stadt vor. Denn bei Recifran lernen die Obdachlosen auch, sich politisch zu organisieren, Bürgerrechte einzufordern, dafür auf die Straße zu gehen. Jene Mülltrenner von Recifran besaßen Monate zuvor im Dreck der Straße kaum noch Selbstwertgefühl. Jetzt wirken sie erstaunlich selbstbewusst, schwingen Fahnen, Transparente. Carla Nascimento singt sich warm:

"Alljährlich demonstrieren wir gegen die Gewalt - und natürlich ziehen dann alle von uns betreuten Obdachlosen und Projektteilnehmer durch Sao Paulo. Die brasilianische Gesellschaft soll die Friedensbotschaft des Heiligen Franziskus hören."

Ordensbruder José Francisco dos Santos, der alle städtischen Sozialprojekte der Franziskaner leitet, führt den Marsch. Die Caminhada da Paz endet vor dem von Obdachlosen regelrecht umlagerten Franziskanerkloster in der City.

Morgens um sieben und nachmittags um drei wird täglich von der Klosterbäckerei Brot an die Verelendeten ausgegeben, nur wenige hundert Meter von Lateinamerikas Leitbörse entfernt. Und hier vorm Kloster nahm auch das Müll-Recycling-Projekt Recifran seinen Anfang. Franziskanerpriester Johannes Bahlmann, Ordensoberer von Sao Paulo und Rio de Janeiro:

"Wir haben dann aber gesagt vor fast zwanzig Jahren, also wir können nicht nur einfach Brot verteilen, wir müssen uns noch mehr auf die Armen einlassen. Man hat sich auseinandergesetzt mit den Papiersammlern, die direkt vor der Kirche gewohnt haben und mit ihren Familien unter den Wagen in der Nacht geschlafen haben - gegenüber von uns.

Daraufhin ist eine Comunidade Missionaria, eine missionarische Kommunität entstanden, wo man einfach einen Raum geschaffen hat für die Obdachlosen, entstanden Projekte wie das Papiersammlerprojekt Recifran."

Auch Priester Bahlmann zählt die Gewalt zu den Hauptproblemen von Recifran und dem nahen Obdachlosenheim für die Projektteilnehmer:

"Weil wir im Grunde genommen wie in einem Krieg hier leben. Als diese Massenmorde in Sao Paulo waren, als Obdachlose erschlagen, getötet wurden, hat man eine Manifestation vor der Kathedrale gemacht. Wir haben in unserem Obdachlosenheim uns darauf eingelassen, eine friedensstiftende Mission zu starten, wo innerhalb des Obdachlosenheimes Drogenhandel betrieben wurde. Der Projektleiter war der Drogenhändler, der Koch wurde erschossen. Unser Mitbruder dort hat immer wieder Morddrohungen erhalten."

Mit dem Recycling-Projekt, sagt Priester Bahlmann, ist es ähnlich. Brasiliens mächtigstes Verbrechersyndikat PCC ist in Sao Paulo sehr aktiv, Kriminelle werden in die Franziskanerprojekte infiltriert, suchen dort Unterschlupf. Und es gibt in Sao Paulo Müllverwertungskooperativen, wo Menschen wie Sklaven gehalten werden.

Massaker, Todesschwadronen, lebendig verbrannte Obdachlose, von Mord bedrohte Ordensbrüder - lässt sich denn in Deutschland überhaupt vermitteln, unter welchen Extrembedingungen die Franziskaner Sozialprojekte wie Recifran betreiben?

Johannes Bahlmann: "Man kann es vermitteln, aber man muss es gesehen haben. Denn viele Dinge werden gar nicht wahrgenommen, das fällt alles untern Tisch, wird verdrängt. Es wird einfach abgeblockt, man will sich nicht damit auseinandersetzen."