Mit Liebe gegen Entfremdung

09.07.2013
Wer allein Macht, Leistung und Besitz als Ziele des Daseins gelten lässt, der zerstört die Erde und auch sich selbst. Diese Grundüberzeugung reflektiert der 90-jährige Psychoanalytiker Arno Gruen mit Blick auf unsere heutige, durch ökonomische Maßstäbe geprägte Welt.
"Empathie ist die Fähigkeit, an den Gefühlen, Intentionen, Ideen und Bewegungen eines anderen Menschen teilzunehmen. Es ist das Einfühlungsvermögen, Leid, Schmerz und Trauer wahrzunehmen und zuzulassen."

Wo diese Fähigkeit schwindet, da werden Prinzipien wichtiger als Menschenleben und Zahlen realistischer als Schicksale, da sind Besitz und Macht angesehener als Humanität. Arno Gruen beklagt das, denn: "Alles, was den Verstand betrifft, vom Rationalen über das Kognitive bis zum Abstrakten, wird mit der ganzen Wirklichkeit gleichgesetzt."

Der Kopf ist aber nie die ganze Realität, warnt der Autor. "Während der englische Philosoph David Hume noch den Ursprung der Moral den Gefühlen zusprach, ist seit Immanuel Kant die Annahme verbreitet, moralische Urteile seien eine Leistung des rationalen Denkens." Wer aber ängstlich oder verächtlich den eigenen Gefühlen und moralischen Urteilen misstraut, so Arno Gruen, und nur Gier, Größe, Macht, Leistung und Besitz als Ziel seines Daseins gelten lässt, der zerstört die Moral, die Welt und sich selbst - was der Psychoanalytiker knapp 200 Seiten lang mit einer Fülle von Forschungsergebnissen, historischen Exkursen, literarischen Zitaten und tagesaktuellen Beispielen belegt und zu einer kämpferischen Zivilisationskritik formuliert. Er tut das ohne wehleidigen Kulturpessimismus, aber nicht ohne romantisierenden Seitenblick auf die "empathisch-kooperativen" Naturvölker. Nach dem Untergang des Sozialismus, nach der Selbstentlarvung eines faschistoiden Kapitalismus schaut Arno Grün wie ein moderner Rousseau hoffnungsvoll zu den Hopi-Indianern Arizonas und den Müttern in Papua-Neuguinea hinüber.

Er selbst stammt aus einer jüdischen Familie, feierte seine Bar Mizwa 1936 in der Synagoge von Warschau, floh mit den Eltern in die USA, wo er als Professor für Psychotherapie Furore machte und zeitlebens mit Schriftsteller Henry Miller befreundet war. Seit 1979 lebt und arbeitet er in Zürich und variiert ein immer ähnliches Thema: Warum Menschen ihre Unterdrücker für Beschützer halten und ihre Ausbeuter verehren – wie sich also Abhängigkeit und Anpassungsdruck zu Selbsthass und Wut verdichten, die abgespalten und aggressiv auf andere zielgerichtet werden.

Liebe statt Profit

Hat man 2002 Gruens Hauptwerk "Der Fremde in uns" gelesen, kennt man zwei Drittel dieses "neuesten" Buches bereits. Lesenswert ist es trotzdem, als summa des heute 90-Jährigen sozusagen. Arno Gruen psychoanalysiert den Entfremdungsbegriff des Karl Marx, er politisiert die Verdrängungstheorie Sigmund Freuds, er transportiert die Philosophen Adorno, Marcuse und Horkheimer in die Sicherheitsparanoia nach dem 11. September und in den Neoliberalismus des Bankenzusammenbruchs von 2008.

"Liebe - nicht Profit, Größe oder Leistung - ist das entscheidende Merkmal unserer Evolution! Indem wir darauf bestehen, werden wir eine Lebensweise wiederfinden, die jede Form von Mitmenschlichkeit fördert." Das klingt wie ein Erich Fromm fürs 21. Jahrhundert. Gut so.

Rezensiert von Andreas Malessa

Arno Gruen: Dem Leben entfremdet - Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden
Klett-Cotta, Stuttgart 2013
207 Seiten, 19,95 Euro


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