Mit Hängen und Würgen: Politik und Wähler

Von Claus Koch · 09.10.2005
Für politisch denkende Bürger war dieser Wahlkampf eine Zumutung. Zum Glück für die Parteien gibt es nicht allzu viele solcher Bürger. Man kennt hier nicht, was in Frankreich viele gute Republikaner tun: Sie gehen zu den Urnen, um weiße oder ungültig gemachte Stimmzettel einzuwerfen - zum Zeichen, dass sie angesichts eines miesen politischen Angebots zur Wahlverweigerung gezwungen sind.
Das sind regelmäßig mindestens zwei Prozent der Wahlberechtigten, manchmal aber auch doppelt so viele. Würden sich hierzulande gerade demokratisch gesinnte Wähler solches trauen, müssten es schon zehn oder zwanzig Prozent sein, ehe die Parteien und das gesamte Wahlvolk wach werden und sich auf die Krise einlassen, in der der Parteienstaat längst steckt. Aber die Krise wird im schönen Einverständnis der Parteienmanagements und der denkfaulen Bürger immer wieder kleistert und verschoben.

So konnte die nächste, noch größere Zumutung ohne langes Säumen folgen: Die Regierungsbildung. In ihr verloren vor allem die beiden Volksparteien die Reste ihrer Profile. Was zuvor in den so genannten Wahlprogrammen sorgfältig ungenau gestanden hatte, wurde zum reinen Spielmaterial für die Kompromisse, um zu Ämtern und Bündnissen zu kommen, auch wider die mageren Ideenschätze des eigenen Lagers. Jeder zwackte sich und den anderen mal da, mal dort etwas ab, damit sich überhaupt Koalitionen von Interessen herstellen ließen, ob bei den Renten oder bei der Hartz-Organisation, ob bei der Gesundheits- oder der Arbeitspolitik. Am Ende herauskommen kann nur die Bestätigung des Parteienstaates als solcher, der politischen Klasse, die sich nur auf sich selber beziehen kann. Selbstrefenrentiell nennen das die Sozialwissenschaftler, was vor allem heißt: Verurteilt zur Sterilität, zur dauerhaften Selbstblockade.

Blamiert wurde damit auch der Bundespräsident. Um dem Begehren des Kanzlers nach vorzeitiger Neuwahl des Parlaments nachgeben zu können, hatte er der in acht Sätzen die große Notlage der Nation und die Notwendigkeit von energischen Gesamtreformen bemüht – und damit schon die große Koalition angepeilt. Das Bundesverfassungsgericht musste, damit nicht doch unversehens die Staatskrise ausbrach, folgen. Da es jetzt nirgends mehr intaktes Geschirr gibt, wird man eben die Magersuppe aus dem zerschlagenen löffeln. Daran musste man sich in den meisten Parteiendemokratien gewöhnen. Und dem Ordnungsbedürfnis der Deutschen kann es nicht schaden, wenn es einmal in diese Brühe getaucht wird. Demokratisch regiert werden kann für eine Weile auch ohne überzeugende und einmütige Staatslenkung.

War die Parteienschelte schon immer ein Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit, so haben diesmal die frustrierten Bürger besonders wenig das Recht dazu. Die meisten Deutschen gehen nach wie vor zur Wahl, um hinterher in Ruhe gelassen zu werden und dem Broterwerb nachzugehen. Sie wollen erst einmal regiert werden, wenn es nur einigermaßen sauber dabei zugehen kann. Aber sie haben nicht gelernt, dass zur Demokratie gehört, energische Ansprüche zu ertragen und selbst zu stellen.

Und ohne den Funken einer prinzipiellen Rebellion gegen Staat und Parteienwesen keine funktionierende Demokratie.

Nun zahlt sich auch böse aus, dass das deutsche Wahlvolk seit mehr als einem Jahrzehnt das politische Wesen gerne als Show-Veranstaltung erlebt hat. Die Medien haben dazu geholfen, haben schließlich die Arena bestimmt. Überall inszenieren politisch unbedarfte und politisch unverantwortliche Politsport-Moderatoren die personalisierten Scheinkämpfe, in denen so locker wie möglich die verborgenen oder auch die offenen Konflikte des Landes stillgelegt werden. Die Hauptsache, alle bleiben dabei in täglicher Bewegung. Der große Kater, der nach dieser Amüsier-Politik ohne festen Gegenstand fällig ist, steht den Leuten noch bevor.

Zwar wollen sie alle es jetzt nicht und es wäre auch töricht: Aber es kann gut sein, dass die Parteienpolitiker, die allesamt an Grund verlieren, schon in zwei Jahren die Wähler wieder zu den Urnen locken müssen, weil ihnen nichts anderes einfällt. Auch diese peinliche Wahl war ja daraus entstanden, dass dem Kanzler und seiner Partei nach ihrer Rückwärtsreform nichts mehr eingefallen war. Und es wird einstweilen bei Rückwärtsreformen, die vor allem Begradigung am lebenden Staatskörper zur Teilnahme in der Weltkonkurrenz darstellen, beleiben müssen. Wir werden erfahren, dass in dieser Demokratie noch beträchtliche Kraftreserven für ihre Selbstzerstörung, ihre Selbstabschaffung enthalten sind. Die Politiker sind dazu verurteilt, diese Reserven aufzubrauchen. Die mehr oder weniger freiwillige Unterwerfung der Bürger schon vor der Zeit tut das ihre, um diese Parteien, die sich alle in ihrer Unfähigkeit zur Überpartei vereinigen, zu korrumpieren. Freilich fängt die Korruption schon bei den Bürgern an.

Claus Koch, in München geboren, studierte Philosophie, Ökonomie und Geisteswissenschaften und war zunächst in einem Wirtschaftsverlag tätig. Seit 1959 arbeitet er als freier Journalist für Presse und Rundfunk, seit 2003 gestaltet er den Mediendienst "Der neue Phosphorus". In den sechziger Jahren redigierte Koch die Monatszeitschrift "atomzeitalter", später war er Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift für Sozialwissenschaft "Leviathan" und Mitarbeiter mehrerer sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekte. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen "Ende der Natürlichkeit - Streitschrift zur Biotechnik und Biomoral", "Die Gier des Marktes - Die Ohnmacht des Staates im Kampf der Weltwirtschaft" und "Das Ende des Selbstbetrugs - Europa braucht eine Verfassung".