Mit Flugzeugen im Bauch auf "Wolke 9"

Andreas Dresen im Gespräch mit Holger Hettinger · 02.09.2008
"Wolke 9" erzählt die Geschichte einer Rentnerin, die sich in einen älteren Mann verliebt und dafür ihre 30-jährige Ehe aufs Spiel setzt. Regisseur Andreas Dresen sagte, er finde es merkwürdig, dass trotz der gestiegenen Lebenserwartung Menschen jenseits der 60 keine Sexualität mehr zugestanden werde. Beim Filmfestival in Cannes wurde sein Film gefeiert und prämiert.
Holger Hettinger: Herr Dresen, das Thema Liebe und Sex im Alltag ist auf den Kinoleinwänden ein eher randständiges Thema, ob es ein Tabu ist, wie viele Zeitungen schreiben, möchte ich mal dahingestellt lassen. Sie selbst sind 44 Jahre alt, in Ihren Filmen spielen Liebe und Beziehung eine sehr, sehr große Rolle. Was hat Ihre Meinung gestützt, dass dieses Thema für Sie nun fällig wurde?

<im_46330>"Wolke Neun" (NUR IM ZUSAMMENHANG MIT DEM FILMSTART)</im_46330> Andreas Dresen: Ich habe, ehrlich gesagt, vor einigen Jahren einen Dokumentarfilm gesehen eines belgischen Freundes von mir, Piet Eekman. Und dieser Dokumentarfilm, 20 Minuten lang, hieß "Die Männer meiner Oma". Und in diesem Film sprach eine 76-jährige Frau aus Gera über ihre Lieben des Lebens, auch über ihre Sexualität und auch über die Sexualität ihres gegenwärtigen Lebens. Also sie erzählte dann so locker, dass sie masturbiert, wenn sie von ihrem Arzt kommt, weil sie den eigentlich noch ganz toll findet.

Das hat mich total perplex gemacht, weil ich mir das irgendwie immer nicht so richtig vorstellen konnte, weil man ja doch so gestrickt ist, dass man sich mit 16 nicht vorstellen kann, dass die eigenen Eltern, die damals so alt waren, wie ich es jetzt bin, überhaupt noch ein Sexleben haben. Und jetzt, wenn man dann 44 ist, fällt es einem auch schwer, der älteren Generation so was zuzugestehen.

Und ich habe mich natürlich gefragt, warum ist das so? Vielleicht aus Angst vor dem Älterwerden, vielleicht aus Angst vor der Nähe zum Tod, keine Ahnung. Auf jeden Fall finde ich es merkwürdig, dass die Gesellschaft ja immer älter wird und scheinbar aber Menschen jenseits der 60 oder 70 keine Liebe, keine Leidenschaft und schon gar keine Sexualität zugestanden wird. Und von daher war es mir ein Herzenswunsch, darüber mal einen Film zu machen. Und dann haben wir uns halt diese Geschichte gesucht.

Hettinger: Was glauben Sie, hat Sexualität im Alter eine andere Qualität?

Dresen: Wie ich natürlich nicht aus eigener Erfahrung, noch nicht, denn so ganz alt bin ich ja doch noch nicht, aber aus vielen Erzählungen und auch Erfahrungsberichten weiß, es gibt darüber übrigens eine ganze Menge wirklich hochinteressanter Literatur, wird Liebe und Sexualität im Alter, je nachdem, wie man das zeitlebens gelebt hat, durchaus interessanter, weil man natürlich freier ist, weil man sich mehr Zeit nimmt, weil man auch mehr Erfahrungen mit reinbringt. Wenn man allerdings vorher sich auch schon nicht wirklich für Sexualität interessiert hat und einem das eher lästig war, wird man den Absprung mit 60 vermutlich gerne nutzen und dann damit aufhören.

Hettinger: Sie haben diesen Film mit ganz eindrucksvoll agierenden Schauspielern gedreht. Nun hört man ja oft, dass am Set die Sexszene so das Delikateste ist, was man eigentlich einrühren kann. Sex im Alter, ist das noch mal eine Steigerungsstufe, was so die Delikatesse und das Tabuverhalten anbetrifft, oder war das ganz einfach?

Dresen: Es ist natürlich nicht einfach im Ansatz erst mal, und ich hatte auch Angst. Erst mal ist es natürlich eine Kommunikation zwischen unterschiedlichen Generationen. Die Schauspieler, mit denen ich gearbeitet habe, sind natürlich deutlich älter als ich, und da hat man ja auch einen gewissen Respekt. Es war aber von vornherein klar, dass wir das machen wollen.

Ich habe mit den Schauspielern ja vorher Gespräche geführt, und es war klar, es wird Nacktheit geben, es wird Sexszenen geben, und sie wollten das auch unbedingt, weil sie es auch für sich als wichtig empfunden haben und gesagt haben, es ist eigentlich komisch, dass man das in Filmen so selten auf eine realistische Art zu sehen bekommt, sondern nur mit diesen sepia gefärbten Bildern, mit Klaviermusik dazu oder irgendwie unter Wallewalle-Laken. Und das wollten wir alles nicht machen und haben uns das dann fest vorgenommen.

Und am Drehort war es dann tatsächlich so, dass die Schauspieler relativ schnell schon bei der ersten Probe die Sachen abgelegt haben und entgegen meinem Wunsch dann gleich nackt geprobt haben, einfach auch, um diese Hemmschwelle wahrscheinlich zu überwinden.

Und es setzte dann bei mir auch das ein, was hoffentlich auch beim Filmzuschauer einsetzt, dass man plötzlich das ganz normal findet. Es war sehr schnell eine große Normalität am Drehort, und es war viel schwieriger, dann später die großen Auseinandersetzungen zwischen dem Ehepaar zu drehen, wo es eine seelische Nacktheit darzustellen galt als nun gerade die physische Nacktheit. Das ist dann wahrscheinlich nur eine Frage von innerer Überwindung, und wenn man es dann hat, dann kann man gut damit umgehen.

Hettinger: Andreas Dresen, die "Berliner Morgenpost" hat es als Überraschung bezeichnet, dass Sie mit Ihrem Film "Wolke 9" nach Cannes eingeladen wurden, und schreibt, "Dresen steht auch für die Fortführung des DEFA-Filmerbes mit seiner genauen, unspektakulären Menschenbeobachtung, und dafür hatte Cannes noch nie Interesse gezeigt". Waren Sie genauso überrascht wie die "Morgenpost"?

Dresen: Also ich habe mich natürlich sehr über die Einladung gefreut, ganz klar, weil das eine Riesenchance ist. Und wenn man dann hier ankommt, sieht man ja plötzlich auch, was das für ein exklusiver Zirkel ist, das war mir gar nicht so bewusst. Natürlich war mir klar, dass Cannes ein ganz wichtiger Ort ist für die Filmkunst, weil hier viele der Regisseure, die ich sehr liebe persönlich und über die Maßen schätze, ihre Filme gezeigt haben. Aber wenn man dann hier ist, merkt man plötzlich, dass das doch sehr exklusiv ist und auch was ganz Besonderes.

Und dann war ich auch sehr aufgeregt, muss ich sagen, und habe mich irrsinnig gefreut, dass der Film dann so gut aufgenommen wurde. Man weiß ja auch nicht, wie die Menschen auf so eine Thema reagieren. Werden sie lachen vielleicht darüber? Gehen sie raus? Das alles fand nicht statt, und stattdessen gab es zehn Minuten Standing Ovations nach dem Film, das war für uns alle ein sehr, sehr berührender Moment, weil das gerade an diesem Ort natürlich was ganz Besonderes ist.

Hettinger: Die exklusive Szene in Cannes, dazu müssen Sie mir nachher noch ein bisschen was erzählen. Zunächst, ich habe gelesen, dass Sie bei dem Film "Wolke 9" ähnlich wie bei "Halbe Treppe" kein genau ausgearbeitetes Drehbuch vorgelegt haben, in dem jetzt alle Dialoge dann genau fixiert sind, sondern haben diesen Film als Prozess aufgefasst. Wie muss ich mir das vorstellen, gab es da Dialogkonferenzen, auf denen dann der Inhalt des Films festgelegt wird?

Dresen: Es gab eine Art von Szenenfahrplan, eine Art Entwurf, wie die Geschichte gehen soll. Also wir wussten, wie sie endet, wir wussten die Grundkonstruktion, wie wussten auch, wie sie anfängt und ungefähr, welche Szenen da drin vorkommen sollen. Und anhand dieses Szenenfahrplans bin ich dann mit den Schauspielern an den Drehort gegangen, und dort haben wir versucht, die Szenen gemeinsam über Improvisation zu entwickeln. Das heißt, wir haben relativ schnell einen ersten Take gedreht, dann geguckt, was können wir daran verändern, was können wir besser machen. Und dann entsteht unter Umständen je nach Szene eine Art Dialog, der festgelegt ist, und die Szene gerät immer mehr in eine inszenierte Form.

Und so gibt es im Film Segmente, die sind komplett frei improvisiert, und andere, die dann innerhalb der Arbeit am Drehort festgelegt worden sind und eher in eine traditionelle Art von Inszenierung reingekommen sind. Das ist ganz unterschiedlich, aber die Herangehensweise ist in jedem Fall eine sehr offene. Und wir haben auch nur mit einem ganz, ganz kleinen Team von sieben Leuten gedreht, was auch sehr schön war - am Drehort waren wir oft nur zu viert und die Schauspieler -, weil diese Intimität natürlich auch hilft, gerade so eine Geschichte zu filmen.

Hettinger: Andreas Dresen, Ihr Film läuft in der Reihe "Un Certain Regard", das ist die wichtigste Nebenreihe beim Filmfestival von Cannes. Dort tritt er gegen Filme von Jean-Stéphane Sauvaire an oder von Amat Escalante, das sind Filmemacher, die für ihre ganz handfeste, muskulöse, streckenweise sehr plakative Ästhetik bekannt sind. Ihre Filme wirken dagegen fast kammermusikalisch, immer genau beobachtet, da zählt eine kleine Geste mehr als das große Rauschen. Was glauben Sie, wird ein stiller Film beim Festival genauso wahrgenommen wie ein besonders lautstarker?

Dresen: Also ich habe schon das Gefühl, weil ich meine, hier ist natürlich eine gewisse Grundlautstärke da, nicht nur im Kino, sondern vor allen Dingen außerhalb, wenn man hier diese Croisette langgeht, das ist ein ungeheures Lärmen. Es ist eigentlich ein bisschen eine Jahrmarktsatmosphäre. Das, was ich manchmal an dem ganzen Filmrummel so hasse, ist hier hoch zehn da, also Karussells, Würstchenbuden, Riesenbohei, riesige rote Teppiche.

Aber wenn man dann in die Kinos geht, dann ist da eine große Kontemplation da, eine Konzentration, auch Filmkultur. Und dann regiert einfach die Filmkunst und ein großer Respekt davor, eine große Würde. Das merkt man auch beim Publikum. Es ist unheimlich still und konzentriert in den Vorführungen. Und wir hatten auch bei unserem Film das Gefühl einer ganz, ganz hohen Aufmerksamkeit. Also dieser ganze Rummel, der draußen herrscht, vor dem Gebäude, der wird hier drinnen abgelegt, und auch die Filme, die hier größtenteils ja gezeigt werden, sprechen eine ganz andere Sprache als die des Rummelplatzes.

Es ist dann nur halt ein bisschen seltsam, wenn man hier in einen Wettbewerbsfilm von den Dardenne-Brüdern gehen möchte und dazu einen Smoking anziehen muss. Das ist ein gewisser Grundwiderspruch, in so einer Abendgalagarderobe dann reinzurennen in einen Film, der von den sozialen Missständen dieser Welt erzählt.

Hettinger: Das zerrissene T-Shirt kann man ja immer noch drunter anziehen, das geht ja.

Dresen: Das kann man heimlich drunter tragen, genau.

Hettinger: Sie haben eben dieses Bild von Cannes gezeichnet, das man ja hier auch hat, die Stars, die Sternchen, Croisette, teure Gartenlokale, und ab und zu zieht auch mal eine der jungen Damen blank, das ist so dieser Spektakelcharakter, der hier gezeigt wird. Sie haben eben davon gesprochen, dass das ein sehr exklusiver Zirkel ist. Wo äußert sich diese Exklusivität über den Smoking zur Premiere hinaus?

Dresen: Na ja, das ist ja nur das Äußerliche. Das andere ist, hier überhaupt reinzukommen in dieses Festival. Das ist, wenn man das probiert, unheimlich kompliziert. Hier werden halt nur letztendlich sehr wenig Filme ausgewählt. Ich glaube, es gab vier- oder fünftausend Einreichungen. Letztendlich werden im offiziellen Programm gerade mal 50 Filme gezeigt, glaube ich, also Wettbewerb und "Certain Regard" zusammengenommen. Und wenn man den Festivalkatalog sieht, merkt man es eben auch, der ist recht dünn, da sind eben nur diese paar Filme drin. Und trotzdem konzentrieren sich eben alle dann auf diese Vorführungen.

Das ist schon was sehr Verrücktes. Man wird hier sozusagen an den Tisch der Weltfilmkunst irgendwie mit eingeladen. Und ich bin ganz froh, dass ich da mal einen kurzen Blick draufwerfen durfte, das ist jedenfalls ganz schön.

Die Leiterin der Sektion sagte dann, als ich hier reinkam zur ersten Vorführung, willkommen in der Familie. Es ist so ein bisschen die große Geste, die hier auch dann herrscht, aber auch eine große Aufmerksamkeit, bis hin zum technischen Detail der Vorführungen ist man da von vielen Leuten umgeben, die sich auch noch um das kleinste Detail kümmern, dass mit der Vorführung selber und mit dem Zeigen des Films dann auch wirklich alles stimmt, da herrscht hier die allergrößte Sorgfalt, die ich jemals erlebt habe.

Hettinger: Herr Dresen, haben Sie auch die Möglichkeit, sich mit ihren Regisseurskollegen auszutauschen oder operiert da schon jeder für sich allein? Ich stelle mir das schon ganz charmant vor, wenn man merkt, dass der Mensch, der einen abends dann zehn Minuten an der Hotelbar vollblubbert, dass das dann Steven Spielberg ist, oder haben Sie solche Hallo-Erfahrungen nicht?

Dresen: Ich habe gleich am ersten Abend irgendwie Jim Jarmusch hier getroffen, der rannte da auch nur über die Terrasse. Es war jetzt nicht so, dass wir da groß miteinander geredet hätten, aber das ist schon toll, weil ich den sehr verehre. Ansonsten ist hier eine unheimlich Geschäftigkeit. Heute Abend gibt es ein Abendessen, wo alle Regisseure von "Certain regard", die jetzt gerade hier sind, eingeladen sind. Da wird es dann tatsächlich mal die Möglichkeit geben, vielleicht auch miteinander ein paar Worte zu wechseln.

Das Blöde ist bloß, man sieht ja kaum die Filme der anderen. Also ich bin Freitag gekommen, Sonnabend lief der Film zweimal, seitdem mache ich ununterbrochen Pressearbeit. Also ich komme heute Abend überhaupt zum ersten Mal hier in ein Kino, um mir einen Film anzugucken, der nicht mein eigener ist. Und das ist schon ein bisschen zermürbend und macht einen auch traurig, weil ich natürlich weiß, dass hier irrsinnig viele spannende Sachen laufen, die ich gerne sehen würde. Und dazu fehlt bei dieser Art von Festival natürlich ein bisschen die Zeit, wenn man hier mit einem eigenen Film ist.
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