Mit Briefen die Entbehrung ertragen

Moderation: Joachim Scholl und Vladimir Balzer · 26.11.2012
Der russische Atomforscher Lew und seine Frau Swetlana lebten jahrelang getrennt: Er war im Gulag während sie sich durch die harten Nachkriegszeiten im russischen Zivilleben kämpfte. Per Brief hielten sie Kontakt. Die Korrespondenz der beiden dokumentiert Orlando Figes in "Schick einen Gruß zuweilen durch die Sterne".
Joachim Scholl: Dem russischen Soldaten Lew ging es wie vielen seiner Kameraden nach dem Zweiten Weltkrieg: Als er aus deutscher Kriegsgefangenschaft in die Sowjetunion zurückkehrt, wird er sofort verhaftet und in ein Straflager verbannt. Das Besondere: Lew gelingt es, während der gesamten Zeit im Gulag mit seiner Frau Sweta einen Briefwechsel zu unterhalten. Der britische Historiker Orlando Figes hat aus dieser wahren Geschichte nun ein Buch gemacht, das sich auf den erhalten gebliebenen Briefwechsel der beiden stützt. Orlando Figes hat die beiden 2008 kurz vor deren Tod noch getroffen. Wir hatten die Gelegenheit, Orlando Figes zu dieser Geschichte selbst zu befragen, und mein Kollege Vladimir Balzer wollte von ihm zunächst wissen, welchen Eindruck damals auf ihn gemacht haben.

Orlando Figes: Also die haben einen sehr großen Eindruck auf mich gemacht. Gerade Lew war unglaublich beeindruckend. Er ist jemand, der wie ein Gentleman ist, der auch sehr charmant war und der noch unglaublich fit ist – er war immerhin Anfang 90 – und hat ein fotografisches Gedächtnis, und – und das ist für einen Historiker ein großer Vorteil – er setzt sich auch sehr kritisch mit seinen eigenen Erinnerungen auseinander.

Also Swetlana, sie war auch schon Anfang 90, und bei ihr muss man wirklich sagen, leider ließ ihre Gesundheit doch schon merklich nach. Sie saß auch in einem Rollstuhl, aber es war sehr rührend, wie sich Lew wirklich um sie gekümmert hat. Und man spürt, dass er sich jahrelang schon um sie kümmert und ihr auch wirklich dankbar ist.

Und man spürt bei Swetlana immer noch diesen trockenen Humor, der blitzt hier und da einfach noch auf. Das ist ja etwas, was sich auch durch die Briefe zieht. Und im ersten Brief ist es ja beispielsweise auch, nachdem sie jahrelang nichts von ihm gehört hat, wo sie ihm praktisch so Vorwürfe macht, dass er sich so lange nicht gemeldet hat. Und als mein Ko-Interviewer sie fragte, warum sie sich zu Lew damals so hingezogen gefühlt hat, da sagte sie – und da war auch wieder dieses Schmunzeln bei ihr: Ja, ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich ihm so vertraut habe.

Balzer: Haben Sie verstanden, was die beiden all die Jahre zusammengehalten hat, all die Jahre der Trennung? Das war ja nicht nur die Gulag-Zeit, sondern auch die Kriegszeit, viele, viele Jahre, trotzdem sind sie zusammengeblieben, trotz all dieser Entbehrungen. Gibt es dafür eine Erklärung?

Figes: Sie haben sich ja wirklich 14 Jahre lang nicht mehr gesehen, von 1941 bis 1955. Sie hat wirklich diese 14 Jahre gewartet. Sie war 23, als das losging, und dann 38, als sie ihn wiedergesehen hat. Und sie hatte sich so sehnsüchtig eine Familie gewünscht. Und ich hab mich auch mal gefragt: Warum hat sie dieses Opfer wirklich auf sich genommen? Und das liegt wahrscheinlich an dieser Generation. Es liegt wahrscheinlich auch an der sowjetischen Gesellschaft damals. Es war so ein schweres Leben, dass andere Werte wie spirituelle Werte oder auch Liebe eben einfach eine ganz, ganz andere Bedeutung hatten als materielle Werte.

Balzer: Und gleichzeitig kann man auch sehen, dass die beiden offenbar, zumindest in den Briefen, kaum den Glauben an das sowjetische System verloren haben. Gerade bei Lew liegt das ja wirklich nahe, er hat gelitten im Gulag, und Sweta musste so lange warten, und sie hatten viele Entbehrungen hinter sich. Und dann blieben sie aber in der Sowjetunion, blieben auch bei dem sowjetischen System, glaubten weiter daran. Warum glaubten sie weiter an dieses System, was ihnen ja wirklich eigentlich nur Entbehrungen zugemutet hat?

Figes: Also für uns mag das paradox erscheinen, aber so ungewöhnlich ist das letztlich nicht, weil, ja, auch wenn sie an den 1.-Mai-Demonstrationen teilgenommen hat, dann hat sie das getan als Aktivistin der kommunistischen Partei, das gehörte zu ihrem professionellen Ethos einfach mit hinzu. Da ist relativ wenig Politisches in dem, was sie geschrieben hat, eher eine große Skepsis – vor allen Dingen, was den dialektischen Materialismus betrifft, dem sie doch sehr skeptisch gegenüberstand.

Also bei Lew, da mag das Paradox auch noch viel größer erscheinen, aber dann wiederum hat er ein Schicksal, was dem Schicksal anderer Gefangener eigentlich auch gleicht. Er war sicherlich als junger Mann sehr begeistert und auch ein sehr orthodoxes Mitglied des Komsomol, der Jugendbewegung. Und er glaubte an das sowjetische System, er ist voller Begeisterung noch in diesen Krieg gezogen. Aber dann sind seine Illusionen ja auch sehr schnell auch zerstört worden durch die Erfahrung, die er im Krieg gemacht hat, und vor allen Dingen durch die Erfahrung, die er dann im Gulag gemacht hat.

Aber er hat sich trotzdem nach wie vor begeistern können für die sowjetische Wissenschaft, gerade für diesen Wolga-Don-Kanal, und er wusste, dass das ein Gulag-Projekt ist. Er kannte Häftlinge, die daran teilgenommen hatten. Aber was es eben technisch für einen Fortschritt bedeutete, das war etwas, worauf er dann auch wieder stolz sein konnte. Er war bestimmt auch skeptisch, was die politischen Aspekte des Stalinismus betraf, also wenn er sich an Liedern beteiligte, die antistalinistisch waren, im Lager oder so, aber vor allen Dingen nach seiner Freilassung verliert er eigentlich sämtliche Illusionen, die er noch als junger Mann hatte.

Ob das paradox ist, ich bin mir nicht sicher. Man braucht das ja auch, um seine Gesundheit sich zu bewahren in so einem System, um nicht in eine Verzweiflung zu stürzen. Und in seinem Fall, von Lew, war es einfach diese Wissenschaft und Technik, auf die er nach wie vor sehr stolz war in der Sowjetunion.

Balzer: Orlando Figes, noch einmal zurück zur eigentlichen Lagerzeit, zur Gulag-Zeit von Lew. Da kann man ja sehen, dass Swetlana ihn besuchen konnte, auch Briefe wurden ihm nicht vorenthalten, wenn auch zensiert, aber dennoch, die allermeisten Briefe kamen an. Auch seine Briefe verließen das Gulag und erreichten Swetlana. Das wirkt alles relativ liberal für einen Gulag, zumindest so wie wir ihn uns vorstellen. Müssen wir beim Gulag-System zumindest nach 45 da umdenken, sind das andere Gulags als in den 30ern?

Figes: Also man muss schon sagen, dass Lew natürlich in gewisser Weise auch Glück gehabt hat. Er gehörte nicht zu diesen Teams, die da immer raus mussten, sondern er hatte eine etwas privilegierte Stelle im elektrischen Team. Und man kann natürlich auch sagen, dass in den späten 40er-Jahren in einem Lager wie Petschora es nicht mehr so desolat aussah wie noch in den 30er-Jahren. Aber, wir dürfen nicht vergessen, die ganzen Briefe, die gesamte Korrespondenz ist eingeschmuggelt worden. Auch Swetlana ist es gelungen, sich viermal in dieses Lager einzuschmuggeln. Einmal gelang es ihr dann, das auch ganz offiziell und legal zu tun, aber das ist eine einmalige Geschichte, so was hat man sonst eigentlich nie gehört.

Liberal würde ich es trotzdem nicht nennen, weil es gab schon auch Morde und es gab schon auch Gewalt. Aber wir haben vielleicht vergessen, dass das Gulag-System einfach kein so elaboriertes System war, es war sehr viel ärmer organisiert, und da gab es dann einfach Möglichkeiten zu helfen. Und es entstand eben auch zwischen Wärtern und Gefangenen ... streckenweise gab es da Verbindungen, und diese Verbindungen führten sogar zu einer gewissen Solidarität. Das war einfach das Glück, was Lew hatte.

Ich würde deswegen auch nicht sagen, dass mein Buch nur die Liebesgeschichte von zwei Menschen ist, sondern es sagt was über Liebe im größeren Sinne eben auch, wie Liebe auch unter Menschen in einem sehr repressiven System funktioniert.

Balzer: Orlando Figes, Ihre Bücher sind bisher noch nicht auf Russisch erschienen, und auch das aktuelle wird vermutlich nicht auf Russisch erscheinen, zumindest gibt es da noch keine weiteren Gespräche mit einem russischen Verlag. Wirft das auch ein Licht auf, ich sag mal den öffentlichen Umgang Russlands mit der Stalinzeit? Ich meine, man hört ja von außen vor allem von Glorifizierungen der Stalinzeit, vom großen vaterländischen Krieg, all dem. Gibt es eigentlich jenseits solcher umtriebigen Vereine wie den schon erwähnten Memorial ein nennenswertes öffentliches Bewusstsein für den Stalinterror?

Figes: Dieses Buch benennt ein sehr sensibles Thema in Russland und ist zurzeit nicht wirklich Teil der öffentlichen Diskussion, das war zu Zeiten Gorbatschows und Jelzins noch ein bisschen anders. Und seitdem Putin an der Macht ist, ich würde nicht sagen, dass es zensiert wird, aber es findet eher nur am Rande statt.

Und es ist einfach im kollektiven Gedächtnis der Russen zurzeit nicht besonders präsent. Im Gegenteil, man sieht die Sowjetunion relativ positiv, man hebt diese Industrialisierung zum Beispiel der 30er-Jahre hervor, die ja nur stattgefunden hat, weil es das Gulag-System gab, beziehungsweise natürlich den Sieg über die deutschen Nazis. Und das wird unglaublich verherrlicht.

Und eine wirklich aktive Suche nach dem Stalinismus findet nicht wirklich statt. Aber vielleicht liegt das einfach auch daran, dass das eine neue Generation leisten muss. Manchmal dauert es eben ein wenig, bis dann ein wirkliches Interesse besteht.

Balzer: Wenn Sie sagen neue Generation, dann muss ich gleich an junge Leute denken, Künstler, Performerinnen, Pussy Riot zum Beispiel, die ja sehr stark in der Öffentlichkeit waren. Zwei von den jungen Frauen sind ja im Moment in einem Arbeitslager. Was sind das eigentlich für Lager heute? Etwas humaner, etwas liberaler oder letztlich doch auch moderne Gulags?

Figes: Nein, dieses Gulag-System der damaligen Zeit lässt sich nicht mit den heutigen Arbeitslagern vergleichen, wirklich nicht. Natürlich werden diese jungen Frauen alles andere als Spaß haben, wenn sie in diesem Arbeitslager sind, und man muss sehr genau darauf schauen, wie politische Gefangene – weil sie sind politische Gefangene – heutzutage in Russland behandelt werden.

Aber ich meine bei der Generation jetzt nicht Pussy Riot, ich meinte auch nicht die Demonstranten, die im Dezember, Januar und Februar gegen Putin demonstriert haben, sondern ich meine wirklich die Schüler von heute und was sie für Textbücher, was sie für Schulbücher bekommen. Und da wird Geschichte doch immer noch so dargestellt, dass die sowjetische Zeit eine sehr, sehr positive war. Es mag ein kleines Unterkapitel geben, das zwischen 1937 und 1938 es eine Form des stalinistischen Terrors gab, der sich aber gegen die Bolschewisten, gegen Altbolschewisten richtete. Dabei wird nicht wirklich darauf eingegangen, dass er sich auch gegen das ganze Volk richtete.

Und es findet in den Schulbüchern auch keine moralische Bewertung der Sowjetunion statt. Und jeder, der versuchen würde, zum Beispiel das autoritäre System des Stalinismus mit dem des Faschismus gleichzustellen, das wären einfach Texte, die würden nicht durchgehen, also die Behörden würden das als Schulbücher nicht freigeben. Und das ist wirklich ein Kampf für die Zukunft, in welche politische Richtung das gehen wird. Und solange das autoritäre Regime sich mit Schulbüchern noch durchsetzen kann in der heutigen Schule, wird der Putinismus und mit seiner Sicht auf Geschichte erst einmal siegen.

Dolmetscher: Jörg Taszman

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Orlando Figes, britischer Historiker
Der britische Historiker Orlando Figes.© Deutschlandradio - Bettina Straub
Mehr zum Thema