Mit Behinderung Alltag leben

Jenseits von Bethel - zwei Inklusionsgeschichten

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Die Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel werden bundesweit circa 200.000 kranke, behinderte, pflegebedürftige oder sozial benachteiligte Menschen betreut. Die Arbeit hat sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt. © dpa/ picture-alliance/ Wolfgang Moucha
Von Andreas Boueke · 27.12.2015
Martin und Tamara können beide aufgrund physischer und psychischer Beeinträchtigungen nicht ohne Hilfe leben. Trotzdem sollen sie in Bethel bei Bielefeld so weit wie möglich selbständig sein. Manchmal sogar selbständiger als sie das für möglich halten.
"Mein Name ist Martin Kuhlmann. Ich bin 28 Jahre alt und wir sind hier am Tierpark Olderdissen im Schrebergarten. Draußen arbeiten, is' viel schöner, an der frischen Luft und so."
Martin schneidet einen weiteren Büschele Girsch ab.
"Das Ziel ist, dass es einen Schrebergarten gibt, der von Menschen mit und ohne Einschränkung gemeinschaftlich bewirtschaftet wird. Es gibt wirklich in ganz Bielefeld keinen Garten, der barrierefrei ist. Also Menschen im Rollstuhl können hier nicht in die Schrebergärten gehen, spätestens bei den Sanitäranlagen scheitern sie."
Neben Martin kniet Sozialpädagogin Birgit Wolf. Für sie ist der Garten ein Ort, an dem Menschen wie Martin vor allem eines lernen: Selbstbewusstsein.
"Kontakt kriegen ist so'n bisschen schwierig bei mir, weil ich so'n bisschen Probleme habe mit sozialem Umgang, mit meiner Art und so. Dass ich ab und zu mal kann und die Grenzen nicht einschätzen kann. Das ist eben das Problem bei mir. Zum Beispiel wenn Leute Spaß machen, dann kann ich nicht wissen, wo die Grenzen sind von denen. Meine Eltern sagen immer, ich hab' zwei Karakteen. Einmal so nett, Hilfsbereitschaft und dann einmal den nervigen."
Birgit: "Das muss erstmal hier freigemacht werden. Stopp mal Kinder."
Martin: "Wir sind nicht Deine Kinder."
Brigit: "Oh guck mal da ist noch 'ne Schnecke drunter. Wer möchte die denn?"
Martin: "Oh du bist fies, ey."
Birgit: "Das war aus versehen. Tu' se mal zur Seite. Martin!"
Martin: "Guck mal lecker, lecker Schleim."
Birgit: "Martin pass' mal auf. Wenn jemand das nicht möchte, musst du das auch respektieren."
Martin: "Ich wollt mich bei Dir entschuldigen."
Sophie: "Das ist doch nicht nötig."
Martin: "Bitte die Hand geben."
Birgit: "Martin, Sofie, Carsten, was denkt ihr?"
Martin: "Was denn?"
Birgit: "Also der Vorschlag ist, dass man jetzt mal einmal so'n Streifen jetzt mal unkrautfrei kriegt."
Martin: "Hier am Zaun und so."
Birgit: "Da wo die Hecke jetzt geschnitten ist."
Martin: "OK. Dann kann ja Gisela sagen, was wir dann machen sollen."
Birgit: "Genau, Gisela ist eh die Gartenchefin."
Alle Freiwilligen, die sich an dem Gartenprojekt beteiligen, hören auf den Rat von Gisela Schmalbeck. Sie hat 40 Jahre Erfahrung als Kleingärtnerin: "Ich war mal krank, war depressiv. Und als es mir wieder besser ging, bin ich zur Schmiede gegangen, hab' ich gedacht: 'Jetzt kann ich anderen Leuten helfen.' Und seitdem mach' ich dass."
Martin: "Alles raus, was raus muss, das ist das Motto."
Gisela: "Dadurch, dass er hier im Garten ist, und mit Nichtbehinderten und mit Behinderten zusammen. Er merkt, er kann genauso gut arbeiten wie ich das kann. Er kann den Girsch genauso gut rausmachen, wie ich das mache. Und wenn er das öfter macht, dann wird er auch diese Angst verlieren, draußen zu wohnen. Denn jetzt wird ihm noch vieles abgenommen. Und je weniger ihm abgenommen wird, im Laufe der Zeit, desto eher wird er auch von sich aus sagen: Ich möchte jetzt woanders wohnen."
Denn: Martin ist Teil eines Inklusionsprojektes, das Menschen mit Beeinträchtigungen den Übergang in ein Leben ohne stationäre Betreuung erleichtern soll.
Martin: "Ich hab' ja epileptische Anfälle. Und 2010 hatte ich einen, da haben die mich wo ich vorher gewohnt habe, nicht direkt behandelt und so. Auf Grund dessen habe ich mit meinen Eltern beschlossen, dass ich hier nach Bethel ziehe. Jetzt ist es soweit, dass ich nochmal umziehen muss, obwohl ich hier gerne wohnen bleibe. Weil hier sind Leute, die in Bethel wohnen, die Behinderungen haben und keine Behinderungen haben, aber die Leute, die hier das Sagen haben, die sagen: Die so fit sind wie meine Wenigkeit, die meinen, die alle nicht im Rollstuhl sitzen, die keinen Rollator haben, die müssen aus Bethel ausziehen und in den einzelnen Stadtteilen ziehn."
Schutzraum Stiftung Bethel - aber nur für drei Jahre
Birgit: "Was haltet ihr denn davon, wenn wir noch in diesem Jahr so 'ne kleine Einweihung machen?"
Gisela: "Also, feiern is' immer gut."
Sophie: "Ja, wer hätte was gegen."
Martin: "Ja aber, wenn überhaupt welche kommen."
Birgit: "'türlich."
Gisela: "Die sind alle neugierig."
Birgit: "Du könntest Deinen Eltern Bescheid sagen, zum Beispiel."
Martin: "Ich mach den Grill, der Hundertste kriegt 'nen Würstchen umsonst."
Drei Jahre lang lebt Martin schon in einem Haus der Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel zusammen mit fünf anderen jungen Leuten. Deren Hauptsitz liegt rund drei Kilometer vom Stadtzentrum Bielefeld entfernt, mitten im Teutoburger Wald. Dort wohnen viele der Mitarbeiter in alten Häusern aus der Anfangszeit Bethels, arbeiten aber in neuen Gebäuden, die mit modernster medizinischer Technik ausgestattet sind. In den diakonischen Einrichtungen werden bundesweit circa 200.000 kranke, behinderte, pflegebedürftige oder sozial benachteiligte Menschen betreut.
Martin: "Fachausdruck, nennt sich bei mir: fokaler Anfall. Da ist die komplette linke Seite, sind Taubheitsgefühle und ich bin beim Bewusstsein, circa fünfzehn Minuten dauern die und dann ist es weg. Aber zu 90 Prozent krieg ich die beim Fußballspielen, wenn ich 'nen Ball gegen den Kopf kriege."
Martin nimmt viele Freizeitangebote der Bodelschwingschen Stiftungen wahr, unter anderem das Training des Fussballvereins Integra.
Markus: "Den Martin kenn' ich. Also ist eigentlich so'n ganz Netter, muss ich sagen. Der macht das auch sehr gut. Er macht seinen Job als Abwehrspieler auch gut. Ja es ist ein Behindertensport für Behinderte, und Martin, ja dem macht es halt Spaß wie man sieht, und dann kann, da ist gerade das nächste Tor gefallen."
Manchmal kommt auch Martins Vater zum Training und schaut von der Tribüne aus zu.
Vater: "Interessant, is toll. Ja, weil das ist ganz normaler Sport, mit Emotionen. Und jeder möchte gewinnen und die haben ihren Spaß. Ist schon schön. Ich weiß noch zu meiner Zeit, wo ich Kind war, kenn' auch 'ne Situation in der Nachbarschaft. Ein Kind mit Downsyndrom. Ja, die wurde Zuhause weggesperrt. Die mag jetzt so Anfang sechzig sein. Die wohnt immer noch bei den Eltern oder zu Hause, und sowas wollten wir nicht haben. Deswegen haben wir auch eigentlich sofort dann gesagt: Martin der muss sehen, dass er nicht mehr Zuhause wohnt, dass er irgendwie 'ne Möglichkeit hat, 'ne gewisse Art von Selbständigkeit zu haben."
"Martin, erstgeborenes Kind. Dann von Anfang an nur Klinikaufenthalte, schwierige Situation. Bis Diagnose, wo man Todesangst haben musste, haben wir mehrmals gehabt. Da haben wir uns mit dieser Diagnose, die kam irgendwie schriftlich über Brief, mindestens vier oder sechs Wochen mit rumgebalgt. Waren total fertig. Was wird? Und dann ist das Ding nochmal gelaufen, und die haben sich vertan. Und diese Sache, die bekommt man schriftlich mit der Post. Das war so'n Erlebnis, das war ganz ganz schlimm."
Nach dem Training, in Martins Haus auf dem Stiftungsgelände.
Martin: "Kurz Schuhe ausziehen. Kannste schonmal aufschließen."
Vater: "Ja, das ist vom Feinsten. Hat einer geputzt hier?"
Martin: "Warum?"
Vater: "Hier riechts nach Essig."
Seit Jahrzehnten bemühen sich die von Bodelschwingschen Stiftungen Bethel um eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen am gesellschaftlichen Leben. Das Inklusionskonzept sieht vor, dass Menschen wie Martin nicht mehr stationär betreut werden, sondern außerhalb Bethels in den Bielefelder Stadtteilen leben.
Vater: "Je nach Behinderung gibt's Geld. Und ob ambulantes Wohnen oder stationäres Wohnen kommt Geld vom..."
Martin: "Das ist aber nicht ambulantes Wohnen hier."
Vater: "Ist das stationäres?"
Martin: "Das ist stationäres."
Vater: "Und die wollen Dich unbedingt aus dem Stationären raushaben ins Ambulante."
Martin: "Ja."
Auch Karin Kuhlmann, Martins Mutter, macht sich Sorgen. Die Vorstellung, dass Martin selbstständig in einer Sozialwohnung wohnt, belastet sie sehr.
Mutter: "Martin leidet an einer sehr sehr seltenen Krankheit. Das Syndrom nennt sich Haberland-Syndrom. Also es ist ein Gendefekt, die halt einmal im Gehirn diese Epilepsie auslösen. Er hat nur noch ein Auge, weil sie ihm das entfernen mussten, weil er halt auf dem Auge diese Lepom hatte, ja und ist entwicklungsverzögert. Also, Martin hat jetzt einen Betreuer. Das Beispiel des Einkaufens, er hat da große Probleme, fordert auch das mal ein, dass dann mal jemand mit ihm einkaufen geht, und das funktioniert dann nicht, und dann isser immer so enttäuscht."
Martin in der Werkstatt
Martin in der Werkstatt© Foto: Andreas Boueke
Die Eltern haben Angst, dass ihr Sohn in der eigenen Wohnung einsam ist
Keinen Kilometer von Martins Wohnung entfernt sitzt Gert Finke in seinem Büro. Der Sozialarbeiter war drei Jahre lang zuständig für Martins Betreuung. Zusammen haben sie Alltagssituationen eingeübt: Einkaufen gehen, Arztbesuche, Haushaltsführung: "Martin hat 'ne sehr positive Entwicklung hier in Bethel genommen. Und wir am Ende unserer dreijährigen Rehamaßnahme - die Zeit des Aufenthaltes bei uns ist begrenzt auf drei Jahre - jetzt sagen können: Er kann einen neuen Schritt machen in Richtung weitere Verselbständigung, und diese Verselbstständigung soll nicht mehr in der Ortschaft Bethel stattfinden, sondern in den einzelnen stadteilbezogenen Gemeinden."
Genau vor diesem Schritt aber fürchtet sich Martins Mutter. Sie hat Angst, dass ihr Sohn vereinsamt. Und denkt dabei auch an sich. Sie möchte jetzt, mit Mitte fünfzig, endlich loslassen. Und das Gefühl haben, dass Martin dort, wo er lebt, auch glücklich wird - auch wenn seine Eltern mal nicht mehr da sind. Finke: "Die Angst der Eltern ist berechtigt, weil natürlich das ein Schritt in die Selbständigkeit ist, die dann auch nicht wirklich voraussagen kann, das heißt, ist ein Stück Risiko notwendig und Bereitschaft, was Neues auszuprobieren."
Und auch Martin gibt Gert Finke contra: "Martin kritisiert, dass er nicht weiterhin hier in Bethel wohnen bleiben kann. Das ist aber sozialpolitisch von der Geschäftsführung in Bethel nicht vorgesehen, dass wir quasi diese Behindertenwohnplätze für wenig behinderte - sag' ich jetzt einfach mal - in Bethelzentrum vorbehalten wird. Und insofern ist das ein Teil auch des Konzeptes, zu sagen: Ja, ein weiterer Verselbstständigungsschritt ist sinnvoll und notwendig, auch wenn das im Moment nicht für den Patienten einsichtig ist."
Noch vor 20 Jahren wurden alle Patienten Bethels stationär betreut. Heute sind es nur noch etwa die Hälfte. Alle anderen werden ambulant betreut. Sie wohnen in eigenen Wohnungen oder in kleinen Wohngemeinschaften außerhalb Bethels, organisieren ihren Alltag weitgehend selbst, bekommen aber jede Woche einige Stunden lang Unterstützung durch einen Sozialarbeiter.
Es gibt viele Erfolgsgeschichten der ambulanten Betreuung, zum Beispiel die von Tamara Rupp.
Jenseits von Bethel - im Bielefelder Westen: In der Begegnungsstätte Bültmannshof. Der Sozialarbeiter Jens Köhl koordiniert das Freizeitangebot: "Zum Beispiel der Spieletreff, die Malwerkstatt. Und die Klienten können kommen, weil sie wissen, hier passiert was, die Tür ist offen oder es gibt hier 'nen Essensangebot, das nicht so viel kostet."
Mittwochs ist Spieletag: "Also ich würde sagen, die meisten Klienten, die in einer eigenen Wohnung leben, sind damit sehr zufrieden. Also es ist wenige, die sagen: 'Ich möchte wieder in 'ne stationäre Einrichtung.'"
Tamara Rump war drei Jahre lang in stationärer Betreuung wie Martin. Vor neun Jahren ist sie in ihre eigene Wohnung gezogen: "Die war gut, die Entscheidung. Ich fühl' mich viel unabhängiger. Ich kann mein Konto ja selber führen. In so 'nem stationären Haus sind die Frühstücks-, Mittagsessen und Abendessen eingeteilt. Ich kann das im Ambulanten allein entscheiden."
Tamaras Betreuerin, Ulla Steiner-Kastrup, hat erlebt, wie sich die Dinge in Bethel verändert haben. Noch vor einem Vierteljahrhundert stieß schon der Gedanke an eine Auflösung von Heimen auf Widerstand: "Und wo es wirklich viele, viele Bedenken gab, und wo man dafür kämpfen musste. Und jetzt ist es ja genau andersrum: Der Landesverband möchte ambulant vor stationär. Da hat es in so wenigen Jahren wirklich radikales Umdenken gegeben."
Tamara Rump ist froh, dass sie die Möglichkeit bekommen hat, von der stationären in die ambulante Betreuung zu wechseln. Sie hat den Schritt gewagt, vor dem Martin und vor allem seine Eltern solche Angst haben: "Ja, ich bin auch stolz drauf und ich bin auch froh. Ich fühl' mich frei. Wenn ich dann was Neues ausprobiere, und dann klappt das, dann bin ich immer stolz drauf, und ich bin auch stolz drauf, dass ich nicht dauernd Personal um mich hab', sondern nach Bedarf, wie es im Ambulanten ja ist."
Einmal in der Woche trifft sie sich mit ihrer Betreuerin. Ulla Steiner Kastrup: "Also ich hab' den Eindruck, dass für viele Klienten es ganz wunderbar ist, im Alltagskontakt einfach mit der Marktkaufmitarbeiterin oder dem Busfahrer kurz zu reden. Dieser Kontakt reicht oft schon."
Ihren Einkauf erledigt Tamara selbst: "Also, ich bestimme lieber selber was ich will, und wann ich es kaufen will. Da ist alleine zum aller aller Besten. Ich kann ja zu jeder Zeit dann gehen."
Die junge Frau wohnt allein in einer kleinen Dachgeschosswohnung im Bielefelder Westen. Mit den Tabletten kontrolliert sie ihre Epilepsie: "Hier kann ich machen was ich will." Früher hat sie sich oft allein gefühlt, aber die Unabhängigkeit hat ihr Selbstbewusstsein gestärkt: "Wenn andere mich nicht mögen, ist das denen ihre Sache. Ist nich' meine Baustelle. Ich schäm' mich nicht drum. Ich hab' genug Leute, mit denen ich klarkomme. Wenn andere nicht wollen, Pech gehabt."
Martins Betreuer sehen seine Entwicklung viel positiver als er selbst
Tamara und Martin. Zwei Menschen mit Beeinträchtigungen, die in Deutschland das Recht auf einen festen Arbeitsplatz haben. Tamara ist in einer Küche angestellt, die an Bethel angegliedert ist. Sie geht gerne zur Arbeit, genauso wie Martin, der sich jeden Tag auf den Weg in die Holzwerkstatt Pro Werk macht: "Wir haben es jetzt früh am Morgen, 6 Uhr 42. Wir stehen hier am Brackweder Hauptbahnhof und warten auf den Zug nach Bielefeld-Sennestadt, um zu meiner Arbeit zu gelangen. Eigentlich würde ich lieber morgens mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren wie mit dem Zug, weil dann fühl' ich mich 'nen bisschen frischer und so."
Jörg Unnold: "Er ist oftmals der erste, der vor der Tür steht und schonmal irgendwas erzählen will, oder irgendwas regeln will und so. Das ist manchmal morgens schon so, dass er irgendwelche Sachen loswerden muss, die eben halt passiert sind. Und so fängt der Tag meistens mit Martin an."
Der Schreiner und Sozialpädagoge Jörg Unnold ist für Martin nicht nur Vorgesetzter, sondern auch Betreuer und Freund: "Wir haben lange miteinander zu tun gehabt und einige Kämpfe ausgefochten. Ich mag den sehr gerne. Er ist aber schon jemand, der sehr anstrengend ist, für seine Kollegen und Kolleginnen hier am Arbeitsplatz und auch für mich als Fachanleiter. Aber sowas packt natürlich auch zusammen. Und ich hab' mich so viel mit ihm beschäftigt, soviel Stunden, und auch versucht ihm Dinge beizubringen und abzugewöhnen, das ist ja ein bisschen wie mit seinen Kindern, die man auch gerne mag, aber trotzdem hat man den Stress damit."
Martin: "Ich schleife gerade die XL-Seitenhölzer für die Hängematte und die werden in Kinderkrankenhaus Bethel verwendet für die Frühgeborenen, um die da reinzutun. Dass soll sich irgendwie positiv auswirken. Hier bereiten die einen, ja sozusagen wollen die auch einen vorbereiten für den freien Arbeitsmarkt. Dass wir also fit gemacht werden für den freien Arbeitsmarkt, und haben schon einige geschafft und so. Ich kann mir das eigentlich nicht so vorstellen, so auf dem freien Arbeitsmarkt zu arbeiten, weil ich vielleicht den Stress nicht aushalten würde und dann Probleme mit anderen Arbeitskollegen gebe und so. Da bin ich ein bisschen skeptisch gegenüber."
Jörg Unnold: "Martin möchte nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten, weil er gerne diesen beschützen Rahmen weiterhin hätte. Ich persönlich würde ihn schon in bestimmten Stellen sehen, weil er sehr leistungsfähig ist, und seine Defizite liegen eben in diesem Bereich der Verhaltensauffälligkeiten."
Martin sieht manchmal nur sich und seine Bedürfnisse. Er sucht die Aufmerksamkeit seiner Umgebung, spielt den Clown und lacht gerne und laut. Das gefällt nicht jedem und so tut Martin sich schwer, langfristige Freundschaften aufzubauen. Jörg Unnold: "Wie würdest Du das denn sehen. Also diese Arbeit, die du hier machst, kannst du die gut machen?" Martin: "Ja! Ich hab die Stange geschliffen, einmal die Köpfe hab' ich geschliffen. Dann habe ich einmal die Flächen geschliffen, obwohl das eigentlich nicht notwendig ist, aber ich mach' es aus meinen prinzipiellen Grund, schleif' ich die Fläche nochmal." Jörg Unnold: "Weil du ein Dickkopf bist." Martin: "Nein, damit es qualitativ besser und ordentlicher ist." Jörg Unnold: "Ja."
Martin wechselt lieber zur Lebenshilfe - eine eigene Wohnung inklusive
Ein paar Tage später. Der barrierefreie Schrebergarten wird eingeweiht. Auf dem ehemals verwilderten Grundstück ist die größte Unordnung beseitigt. Das Holzhäuschen ist repariert und der Rasen gemäht.
Martin: "Aufhäng', die Luftballons, damit es schöner aussieht. Für die Gartenschreberaktion hier. Heute wollen wir, dass die sich dafür interessieren, die anderen Leute, was wir hier machen. Ein inklusiver Schrebergarten." Viele Gärtnerinnen und Gärtner aus der Nachbarschaft sind gekommen. Auch Martins Eltern sind da.
Mann: "Frau Wolf möchte ein Begrüßung machen."
Birgit: "So, jetzt bin ich angekündigt, vielen Dank. Also herzlich willkommen im Schrebergarten der Neuen Schmiede. Wir sind die neuen Pächter, und jetzt wünsch' ich erstmal allen guten Kaffeedurst. Und wir haben sehr viel Kuchen mitgebracht. Und wer noch länger bleibt, dann gibte es dann auch noch ein Würstchen."
Martin: "Wir haben hier ein Kuchenbuffet, von so ähnliche Himbeerschmandtorte. Dann eine Torte, die so aussieht wie ein Streuselkuchen. Und dann irgendwie so ähnlich eine Schwarzwälderkirschtorte. Und das war's."
Birgit: "Ja, aber jetzt ist Kai, der wollte auch was sagen. Ganz spontan, hat er gesagt, mit lauter Stimme."
Kai: "Ich freu' mich sehr, dass ich demnächst freundliche Nachbarn habe, denn ich finde es nett, dass ich auch dann Gartennachbarn habe. Das finde ich echt super, echt toll."

Martin: "Soll ich Ihnen das mal erklären?"
Frau: "Ja das tuns'e mal. Das wär nett."
Martin: "Hier sind noch ein, zwei Hochbeete, damit die Rollstuhlfahrer da drunter fahren können, und damit die auch tätig werden können, so dass die auch was im Sitzen tun können."
Frau: "Also das find' ich ganz enorm, dass sie daran gedacht haben, diese Hochbeete zu machen."
Martin: "Als normaler Mensch kann man sich man nicht vorstellen, wie so'n Rollstuhlfahrer, der den ganzen Tag im sitzen ist, auch was tun möchte. Die Menschen, die da drin sind, die sind ja auf Hilfe angewiesen. Dann ist so was für die total toll."
Vater: "Das ist genauso jetzt, wie ich mir eigentlich so das vorstelle. Nichts Gezwungenes. Das beste Beispiel ist, dass nicht nur jetzt die Angehörigen der behinderten Menschen hier sind, sondern die Kleingärtner links und rechts. Vielleicht kommen noch welche und sehen, dass es hier was zu essen gibt, und kommen auch noch rein. Das ist doch, besser geht's nicht."
Dass damit jetzt Schluss sein soll, Martin wie Tamara in eine eigene Wohnung zieht, ohne einen Betreuer oder Arzt in seiner unmittelbaren Umgebung: Seine Eltern können sich nicht dazu durchringen.
Ein paar Wochen später treffen sie ihre Entscheidung: Martin wird Bethel verlassen und in Zukunft mit einer anderen Institution kooperieren, mit der Lebenshilfe. Die bietet ihm zwar auch die Möglichkeit, in eine Wohnung außerhalb von Bielefeld zu ziehen. Die Wohnung ist aber an einen größeren Gebäudekomplex angegliedert, in dem es neben verschiedenen Betreuungsangeboten auch eine gut ausgestattete medizinische Einrichtung gibt. Für Martin ist auch das ein Schritt in Richtung Selbständigkeit, wenn auch ein kleiner.
"Hier fühl' ich mich wirklich in meinem Element. Und jetzt könnt ich mich hier voll aufblühen. Beziehungsweise, weil die Leute die hier sind, eigentlich sagt man ja immer, gibt's ja so'n Klischee: Kleingärntner sind spießig. Aber ist gar nicht so."
Vater: "Wo haste denn das her?"
Martin: "Hab ich mal gehört."

Arbeiten im Schrebergarten
Arbeiten im Schrebergarten© Foto: Andreas Boueke
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