Misslungener Putschversuch mit Folgen

Von Bernd Ulrich · 26.12.2005
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschte Unmut im riesigen russischen Reich unter Zar Alexander I. Vor allem Teile der liberalen und westlich orientierten Oberschicht forderten Reformen. Mit dem Tod des Zaren im Dezember 1825 spitze sich die Situation zu. Die so genannten Dekabristen wagten schließlich am 26. Dezember in Petersburg den Aufstand. Er scheiterte gründlich binnen eines Tages, blieb aber dennoch nicht folgenlos.
" Ihr Herrscher! ...
Ihr mögt euch übers Volk erheben,
Doch das Gesetz steht über euch.
Und wehe, wehe jenem Land,
Wo es vom Schlaf nicht will erwachen ... "

Die aufrüttelnden Verse entstammen der "Ode an die Freiheit" von Alexander Sergejewitsch Puschkin, geschrieben Ende 1817. Zu jenem Zeitpunkt konnte der Dichter nicht ahnen, welche Wirkungen dieses und andere Gedichte nur wenige Jahre später haben sollten. Sie wurden wie Flugblätter gelesen, wie Ermunterungen zur politischen Tat.

Denn das riesige russische Reich unter seinem Zaren Alexander I. war in Aufruhr geraten. Kaum das Heer leibeigener Bauern, aber Teile der liberalen und westlich orientierten Oberschicht forderten Reformen. Unter ihnen auch eine ganze Generation junger Gardeoffiziere. Sie hatten während der Feldzüge gegen Napoleon europäische Freiheitsluft geatmet. Nach ihrer Rückkehr in die heimischen Garnisonen hofften sie, der Zar würde in Russland die Demokratisierung vorantreiben. Der Naturwissenschaftler und revolutionäre Philosoph Alexander Herzen sollte sie später charakterisieren:

" Als "Phalanx von Helden", als "verschworene Kampfgefährten", die "das Schweigen, die stumme Passivität ihres Volkes durchbrachen"."

Denn als Zar Alexander am 1. Dezember 1825 starb, hatte er ein Reich im Stillstand hinterlassen. Bibelvereinigungen prägten die Stimmung, vom Zar nicht nur gebilligt, sondern ebenso gefördert wie die berüchtigten Militärkolonien. In ihnen wurden an der Ostgrenze Russlands Bauern zum Militärdienst gezwungen. Die Ideen der "Aufklärung" galten als obskur - misstrauisch beäugt von der allgegenwärtigen Polizei und von der Zensur unterdrückt.

In dieser Hochzeit des Spitzels gediehen Geheimbünde prächtig. Nur dort war ein freies Wort möglich - und schließlich die Erörterung konkreter Umsturzpläne. Nachdem 1822 die Geheimgesellschaften verboten worden waren, konzentrierte sich das konspirative Unternehmen, die Zaren-Herrschaft zu beseitigen, auf zwei weiterhin tätige Geheimbünde: einen südlichen in der Ukraine und einen nördlichen in St. Petersburg.

Zerstritten in der politischen Zielsetzung und uneinig in der Wahl der Mittel, ermöglichte erst der überraschende Tod Alexanders die alle einigende Gelegenheit. Der in der Thronfolge vorgesehene Konstantin nämlich hatte bereits zwei Jahre zuvor zugunsten seines jüngeren Bruders Nikolaus verzichtet. Das hatte sich jedoch in völliger Geheimhaltung abgespielt und zwei Wochen lang blieb unklar, wer der neue Zarewitsch werden sollte.

In diesem Machtvakuum setzten die Geheimbündler alles auf eine Karte. Der Einsatz war groß, wie auch die Hoffnung - der wiederum Puschkin Ausdruck gab:

" O Freunde, ob wir es sehen werden!
Ob über dem Vaterland schließlich das herrliche
Morgenrot der geheiligten Freiheit aufgehen wird?"

Am 26.Dezember 1825, jenem Monat, der im Russischen "dekabr'" heißt und dem die Verschwörer als Dekabristen ihren Namen verdanken, wagten sie in Petersburg den Aufstand. Er scheiterte schnell und gründlich. Bereits am Abend war alles vorbei und der Putsch gescheitert. Nun begann das Schreckensregiment Nikolaus I. gegen die "Angehörigen der übelgesinnten Gesellschaft", wie er die Putschisten nannte. Fünf von ihnen wurden hingerichtet, der Rest der nahezu 600 Männer zur Verbannung und Zwangsarbeit verurteilt.

Dort aber, im fernen Sibirien, begann sich die eigentliche Wirkung der Dekabristen zu entfalten. Das lag nicht zuletzt daran, dass insgesamt elf Ehefrauen, wie ihre Ehemänner aus der russischen Oberschicht, die Verbannung mit ihren Männern teilten. Vor allem sie hielten den brieflichen Kontakt mit den Angehörigen und Freunden aufrecht. So wurden die Pläne des Zaren durchkreuzt, die Verbannten aus der russischen Öffentlichkeit zu tilgen.

Die revolutionären Idealisten des Dezembers 1825 wurden nicht vergessen. Das gesamte 19. Jahrhundert hindurch galten ihr missglückter Aufstand und die sibirischen Jahre als mahnendes Manifest, den gesellschaftlichen, wenn nötig auch revolutionär zu erzwingenden Wandel zu wagen. Ganz wie Puschkin es in seinem 1827 gedichteten "Sendschreiben nach Sibirien" poetisch formulierte:

" Harrt aus! - Sibiriens Bergwerksnacht
Darf euren Stolz nicht niederzwingen!
Was ihr erstrebt, so kühn gedacht,
Wofür ihr büßt, wird einst gelingen!"