Missbrauchsskandal im Kaiserreich

04.10.2010
Wie weit die Bedeutung von Sensationsprozessen über das rein Juristische hinausgehen kann, das zeigt momentan etwa die Causa Jörg Kachelmann. Häufig dienen sie als Labor virulenter Konflikte und Diskurse der Gesellschaft. In seinem Buch "Der Hauslehrer" greift der Zürcher Wissenschaftshistoriker Michael Hagner, Jahrgang 1960, einen Sensationsprozess auf, der Anfang des 20. Jahrhunderts die deutsche Öffentlichkeit erregte.
Im Jahr 1903 stand der 23-jährige Jurastudent und Hauslehrer Andreas Dippold vor Gericht, nachdem einer seiner beiden Zöglinge, der pubertierende Junge Heinz Koch, an den Folgen wiederholter Schläge und grausamer Misshandlungen gestorben war. Die gesellschaftlichen Umstände des Falls sind delikat: Das Opfer ist der Sohn des Berliner Bankier-Ehepaares Rosalie und Rudolf Koch, Letzterer Vorstand der Deutschen Bank.

Ein Jahr vor der Eröffnung des Gerichtsverfahrens sucht das Ehepaar einen Hauslehrer für die beiden Söhne Heinz und Joachim. Sie sind dreizehn und elf Jahre alt und die Sorgenkinder der Familie. Ihre schulischen Leitungen sind miserabel, ihr Betragen lässt, zumindest nach großbürgerlichen Vorstellungen der wilhelminischen Epoche, zu wünschen übrig. Sie gelten als faul, verwöhnt und undiszipliniert, mehrere Gymnasien und Internate haben die beiden Jungen bereits entlassen. In der Anstellung eines Hauslehrers sieht das Ehepaar Koch das letzte pädagogische Mittel, um die Söhne zur Vernunft zu bringen.

Durch eine Zeitungsanzeige lernt Rosalie Koch den Studenten Andreas Dippold kennen. Er stammt aus kleinen Verhältnissen, ein Bildungsaufsteiger, der dem mondänen Milieu seiner beiden Zöglinge von Beginn an mit Ressentiment begegnet und seine Funktion als Hauslehrer zu einem regelrecht totalitären Erziehungsregiment ausdehnt. Die Eltern, im Grunde erleichtert, die Verantwortung für die schwierigen Kinder los zu sein, statten Dippold mit umfassenden erzieherischen Freiheiten aus, sie stimmen sogar zu, dass der Hauslehrer mit den Jungen Berlin verlässt und mit ihnen das Feriendomizil der Familie im Harz bezieht.

Die fast tägliche Korrespondenz zwischen der Mutter und Dippold zeugt von dessen manipulatorischen Fähigkeiten und philosophischen Verstiegenheiten. Im Lauf von ein paar Monaten bricht der Kontakt zwischen dem Ehepaar Koch und den Söhnen, die nun dem Sadismus ihres Lehrers ohnmächtig ausgeliefert sind, vollständig ab. Sie leben in dem Haus im Harz wie in einem Straflager, werden von Dippold täglich geprügelt, ja gefoltert, schlafen mit gefesselten Händen und Füßen, um an der Masturbation gehindert zu werden. Denn dies, der Vorwurf, die Jungen seien "Onanisten", wird mehr und mehr zum Zentrum von Dippolds Obsessionen.

In einer Mischung aus Erzählung und essayistisch-analytischer Abhandlung arbeitet Michael Hagner das historisch Symptomatische des Falls heraus, die Raster von Perversion, Sadismus und Bestialität, die das Handeln des Hauslehrers steuerten und, wenn auch in stark abgeschwächter Weise, durchaus der Mentalität der Zeit entsprachen.

Chronologisch berichtet Hagner von der Vorgeschichte des Prozesses, von diesem selbst, vom Einfluss der journalistischen Berichterstattung und vom Nachspiel des Skandals. Denn auch nachdem der Hauslehrer längst verurteilt und inhaftiert worden war, debattierte die Öffentlichkeit noch lange über den Schuldanteil der Eltern – und somit indirekt über ihr Verhältnis zu Pädagogik, Sexualität, Individualität.

Hagners "Hauslehrer" ist der seltene Fall eines wissenschaftlich erarbeiteten Buches, das spannend zu lesen ist wie ein Krimi. Es diagnostiziert den Geist einer Epoche, die ein Jahrhundert von uns entfernt – aber bis heute spürbar ist. Man denke nur an die Welle der Missbrauchs- und Internatsskandale im Frühling dieses Jahres.

Besprochen von Ursula März

Michael Hagner: Der Hauslehrer. Geschichte eines Kriminalfalls. Erziehung, Sexualität und Medien um 1900
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
279 Seiten, 19,90 EUR