Mindestlohn als elementarer Arbeitnehmerschutz

Joachim Möller im Gespräch mit Ute Welty · 25.04.2013
Vor der heutigen Beratung im Bundestag hat sich der Arbeitsmarktforscher Joachim Möller noch einmal deutlich für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn ausgesprochen. Der Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung verwies dabei auf die guten Erfahrungen in Großbritannien.
Ute Welty: Der Schnitt ist vielleicht die längste Zeit ein Schnäppchen gewesen: Das Friseurhandwerk und die Gewerkschaft ver.di haben sich darauf geeinigt, Mindestlöhne einzuführen, schrittweise in Ost und West, und am Ende sollen dann 8,50 Euro auf der Abrechnung stehen – für den Friseur, nicht für die Frisur.

Mindestlöhne scheinen das Topthema der Wahlprogramme zu werden. Selbst die FDP diskutiert darüber, und der Bundestag berät heute einen Antrag des Bundesrats, der einen Mindestlohn für alle Vollzeitbeschäftigte fordert. Nun hat Rot-Grün im Bundesrat die Mehrheit und Schwarz-Gelb im Bundestag, also wird man mit diesem Antrag nicht allzu weit kommen, aber das Thema scheint vielen auf den Nägeln zu brennen.

Joachim Möller ist Wirtschaftswissenschaftler, Direktor des Institutes für Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Nürnberg und sagt schon seit Jahren, es gibt einen Spielraum für Mindestlöhne. Guten Morgen, Herr Möller!

Joachim Möller: Ja, guten Morgen!

Welty: Warum wussten Sie schon früh, was Teile der Politik und der Arbeitgeber erst jetzt für sich zu entdecken scheinen? Und warum hat es so lange gedauert, bis Sie sich Gehör verschafft haben?

Möller: Nun, es gibt eine breite internationale Erfahrung mit Mindestlöhnen, und da gibt es natürlich auch gute und schlechte Beispiele, aber die guten Beispiele, beispielsweise in Großbritannien, zeigen, dass, wenn man das richtig konstruiert mit dem Mindestlohn, dass das dann segensreich sein kann. Wie bei vielen Dingen kommt es natürlich auf die Höhe an oder auf die Dosis – ein gutes Medikament kann in der richtigen Dosis richtig wirken, wenn die Dosis überzogen wird, kann es auch schädlich sein. Und so ist es beim Mindestlohn genau so.

Welty: Eines der Hauptargumente gegen den Mindestlohn ist immer: Der zerstört Arbeitsplätze. Wann genau zerstört ein Mindestlohn Arbeitsplätze?

Möller: Das kann man allgemeingültig definitiv nicht sagen. Das können wir nur mit wissenschaftlichen Methoden im Nachhinein bestimmen, wann sozusagen diese rote Linie überschritten worden ist, die es da irgendwo gibt, und die dazu führt, dass dann Jobverluste eintreten.

Es gibt einen ganz unteren Bereich, wo der Mindestlohn praktisch überhaupt keine Wirkung hat, weil er nicht bindet, dann gibt es einen Bereich, wo er Bindewirkung entfaltet, wo er sozusagen das Einkommen der Personen verbessert, die den Mindestlohn bekommen, und in diesem Bereich aber auch keine Jobs kostet, und dann gibt es den oberen Punkt, an dem dann diese Jobverluste eintreten. Und den oberen Punkt zu bestimmen, das ist die ganze Kunst bei der Mindestlohngestaltung. In Großbritannien hat man das wie folgt gemacht: Man hat einen relativ niedrigen Einstiegspunkt gewählt und sich dann von unten herangetastet, und dann mit wissenschaftlichen Studien geschaut, ob diese negativen Wirkungen eingetreten sind oder nicht. Und das ist bisher nicht der Fall gewesen, und deswegen halte ich das für ein gutes Beispiel.

Welty: Also dann wäre doch das Vorgehen des Friseurhandwerks und das von ver.di ganz richtig in Ihrem Sinne.

Möller: Also mit einem moderaten Einstiegslohn zu beginnen, das wäre mein Plädoyer. Wo dieser moderate Einstieg liegt – wenn man diskutiert, einen gesamtwirtschaftlichen Mindestlohn einzuführen, dann muss man natürlich um so vorsichtiger sein dabei.

Welty: Diejenigen, die bisher Sturm gelaufen sind gegen den Mindestlohn, das waren die Liberalen. Können die sich der Debatte nicht mehr entziehen, oder hat da tatsächlich ein Sinneswandel stattgefunden?

Möller: Nun, das müssen Sie die Liberalen selber fragen, aber ich nehme schon wahr, dass da auch ein gewisser Sinneswandel doch sich andeutet.

Welty: Und inwieweit hängen Erkenntnisgewinn und Bundestagswahl miteinander zusammen?

Möller: Das ist sicher auch nicht ganz unabhängig, aber ich bin kein Politiker. Ich kann das oder möchte das nicht kommentieren.

Welty: Muss es denn ein gesetzlicher und flächendeckender Mindestlohn sein? Das Beispiel der Friseure zeigt doch sehr gut, dass sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber offenbar durchaus einigen können?

Möller: Das ist in manchen Situationen sicher möglich, aber in anderen wiederum nicht. Und ich plädiere für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, weil Ausweichreaktionen, die wir in anderen Bereichen haben, also wo gilt er, wo gilt er nicht, dann nicht möglich wären, denn das führt zu Verzerrungen. Also wir hatten das im Bauhauptgewerbe, da war das Bauhauptgewerbe betroffen, Bereiche des Baunebengewerbes waren wiederum nicht betroffen. Und dann gibt es nötige Ausweichreaktionen, die zu Umgründungen führen und zu anderen Dingen, die wir einfach nicht wollen können.

Welty: Wie sehr muss man differenzieren? Also es gibt ja diese Differenzierung zwischen Ost und West, aber wäre nicht beispielsweise auch eine zwischen Hamburg und München notwendig?

Möller: Die Differenzierung zwischen Ost und West halte ich für sinnvoll für einen Übergangszeitraum, denn wir wissen, dass die gesamtwirtschaftliche Produktivität im Osten immer noch deutlich geringer ist als im Westen. Und das rechtfertigt eine Differenzierung für einen Übergangszeitraum, solange eben das noch ist. Im Friseurhandwerk ist das ja auch vorgesehen, und wir haben auch in der Zeitarbeit differenzierte Tarife und so weiter. Also das ist aus meiner Sicht sinnvoll.

Wenn man das zu kleinräumig macht, dann geht ein Effekt des Mindestlohns verloren, nämlich auch die Transparenz. Die Transparenz ist ein sehr hoher Wert, denn die Höhe des Mindestlohnes muss sich auch sozusagen als ein unterer Standard etablieren. Und wenn es zu viele unterschiedliche Sätze sind, dann geht diese Transparenz verloren. Und außerdem könnte auch wieder es zu Ausweichreaktionen führen.

Welty: Tatsache ist, in 20 von 27 EU-Ländern gibt es Mindestlöhne, die Deutschen tun sich wie gesehen schwer damit. Warum also gilt ausgerechnet der Mindestlohn als der Untergang von Tarifautonomie, Marktwirtschaft und Abendland?

Möller: Ja, das verstehe ich auch nicht ganz. Denn ich glaube, dass die Tarifautonomie sehr wohl eine Funktion auch noch hat nach einem Mindestlohn, denn natürlich können in einzelnen Branchen oder Berufen unterschiedliche Tarife ausgehandelt werden. Der gesetzliche Mindestlohn markiert nur die absolute Untergrenze der Bezahlung. Wir haben große Teile der Wirtschaft, die ja gar nicht mehr tarifgebunden sind, und da sind Bereiche, in denen es einen gewissen Schutz für die Arbeitnehmer braucht, und der Mindestlohn könnte diesen Schutz liefern.

Welty: Es lohnt, beim Mindestlohn genauer hinzuschauen und nachzurechnen, sagt Joachim Möller, Direktor des Institutes für Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Nürnberg, und mein Dank fürs Gespräch geht genau dahin!

Möller: Ja, bitteschön!


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