Milo Raus "Saló - Die 120 Tage von Sodom"

Behinderte in der Opferrolle

Der Regisseur Milo Rau
Der Schweizer Regisseur Milo Rau © dpa / picture alliance / Anton Novoderezhkin
Von Tobi Müller · 10.02.2017
Der Theatermacher Milo Rau inszeniert im Schauspielhaus Zürich einen Folterschocker der Filmgeschichte: "Saló - Die 120 Tage von Sodom". Das Stück basiert auf dem letzen Film von Pier Paolo Pasolini. Tobi Müller berichtet über eine anregende Premiere.
Die Geschichte: Saló, norditalienische Stadt und letztes Refugium Mussolinis vor dem Ende des Krieges, zeigt die perverse Logik der Verwertung, wenn Menschen wie Sklaven und Tiere gehalten und entsprechend erniedrigt, gefoltert und getötet werden. Pasolini schockierte 1975 mit Pornografie und Gewalt, als beides medial noch nicht allverfügbar war wie heute. Er verlegte Gräuel aus den NS-Konzentrationslagern in die italienische Bourgeoisie.

Rau ist knallharter historischer Materialist

Milo Rau inszeniert die Geschichte mit den Spielern des Theaters Hora, einem professionellen Ensemble geistig Behinderter, und Schauspielern vom Schauspielhaus Zürich. Die medialen Alarmglocken läuteten zuverlässig, die Erklärungen des Regisseurs folgten prompt. Mindestens so gut wie inszenieren kann Milo Rau: überzeugend reden und schreiben. Und zwar mit allen. Rau ist ein seltener Theater-Intellektueller, der den Vollkontakt sucht und die Filterblase scheut. Im Gegensatz zu den tonangebenden Denkschulen des deutschen Theaters, die noch immer im Leidensmodus des Idealismus stecken (etwa: die Welt da draußen ist schlecht, wir stellen uns im Theater eine bessere vor und alles geht dann von selbst, wenn nicht, auch egal, weil wir hatten immerhin recht), ist Rau knallharter historischer Materialist, allerdings mit orthodoxer Fröhlichkeit gesegnet (etwa: wir müssen erstmal erkennen, warum die Welt so schlecht ist, auch im Theater, und sehen unterwegs, warum gleichzeitig alles auch großartig ist! Oder nöd?).
Und weil Rau so ein guter Gesprächspartner ist, sind seine Produktionen, die fast immer mit grenzüberschreitendem Gewaltmaterial arbeiten, im Vorfeld zusehends besser, nun ja: begleitet. Keine Angst, in seinen "120 Tagen von Sodom" wird kein Behinderter ausgebeutet (es gibt wirklich Leute, die das befürchtet haben). Und es geht auch nicht darum, ein Kuschelwunderland der Inklusion heraufzubeschwören, in dem Behinderte all das sein können, was ihnen sonst oft verwehrt wird (es gibt wirklich Journalisten, die ihm vorgeworfen haben, mit "Vorzeige-Behinderten" zu arbeiten). Man war also wahnsinnig gut vorbereitet auf diesen Abend, hörte in allen Kanälen, dass es Rau vor allem um den einen Widerspruch geht: Wir feiern unsere Liberalität, in hochkulturellen Zonen wie dem Schauspielhaus nun auch Behinderte in großer Zahl zuzulassen, während es kaum eine nennenswerte Debatte darüber gibt, dass heute 9 von 10 Föten mit der Diagnose Down-Syndrom oder Trisomie 21 abgetrieben werden, manchmal bis kurz vor der Geburt.

Horas als Kinder Gottes

Ok, also nicht Behinderte essen Kunst-Kacka und trinken Pasolini-Pipi, um den Bürger zu schocken (gibt es zwar, war aber nur als Pflichtprogramm), sondern Pränataldiagnostik. Abgekochter, pasteurisierter ist man noch kaum in eine Premiere gegangen. Man hat alles gesehen, was angekündigt wurde, tipptopp vermittelt, erzählt, ausgebreitet, oft lustig, locker, mal etwas langweilig. Und man war aber auch froh, gab es Momente, deren Spannung dann doch unverhofft den Augenblick dehnte.
Die Mehrheit der Horas haben Trisomie 21, davon erzählen sie auch, oft in Interviews mit den vier Schauspielhaus-Schauspielern. Da erinnert der Abend an "Disabled Theater", mit dem der französische Choreograf Jérôme Bel das Zürcher Theater Hora weltberühmt gemacht hat. Aber das Punktum der Produktion liegt zunächst in einem filmischen Mittel. Die Horas sitzen, als Kinder Gottes, an der Tafel, alle ohne ihre Brillen, was die Augen natürlich größer und verletzlicher macht, und brechen das Brot. Sie werden in Nahaufnahme gefilmt, wie die ganze Inszenierung ein Making of ist, Regisseur ist Reto Blumer, ein Hora-Spieler. Es ist dunkel, die großen Gesichter sind hell, und auf der Leinwand werden die Eigennamen der Hora-Spieler als Gotteskinder eingeblendet. Sie erscheinen, sie verschwinden – nicht als Figuren, sondern auch als Personen. Das ist das, was tatsächlich passiert: Diese Kinder wird es nicht mehr geben. "Ihr seid die Letzten", heißt es später.

Zuschauer in emotionaler Geiselhaft

Später erzählt der Schauspielhäusler Michael Neuenschwander, wie seine ehemalige Freundin ein Kind nach der Down-Diagnose abgetrieben habe und er den Fötus in der Hand hielt. Er sitzt in einer kleinen plüschigen Guckkastenbühne links der Szene, Matthias Grandjean ist fast nackt neben ihm und schaut ihm verständnisvoll zu. Grandjean ist mit 46 Jahren der älteste Hora-Spieler. Neuenschwander hat Tränen in den Augen. Ich bin fast sicher, dass er nicht seine Geschichte, sondern jene eines Kollegen erzählt, ja dramatisiert. Und da wird der Abend auch jenseits der Vermittlung angenehm irritierend. Wenn man den Horas den Status der Spielenden zugesteht, müsste man diese Künstlichkeit umgekehrt auch den Schauspielhäuslern zutrauen (an diesem Theater ist der Kunstcharakter auch eher die Regel, das Schauspielhaus ist kein umstrittenes Performance-Nest). Und doch wird man hier in emotionale Geiselhaft genommen, bestimmt mit Absicht: Man muss jetzt, im Falle einer Fruchtwasseruntersuchtung oder bei der Nackenfalte im Ultraschall, entscheiden zwischen persönlicher Freiheit und Normalisierungswahn, wie das Milo Rau nennen würde. Diesen Riss reizt Rau nicht weiter aus.
Für den Theaterbetrieb, zumal in der Schweiz, auf jeden Fall ungewöhnlich ist die Art und Weise, wie die Bedingungen des Schauens und des Spielens locker inszeniert werden. Wenn sich Gianni Blumer und Fabienne Villiger ausziehen und streicheln, wenn sie aus den Rollen der Pasolini-Erniedrigten fahren und nackt zur Zärtlichkeit finden, schnappt die Falle mehrfach zu. Denn wer hier auf der Bühne steht, ist unser Blick, unsere Sehnsucht, mit diesen Behinderten einen Moment der Authentizität zu genießen, ihnen etwas "Echtes" zu gönnen. Dass man damit den Kunstcharakter in Abrede stellt und sie als arme Behinderte, statt als Schauspieler fasst, ist die kleine Perfidie. Ein großer Effekt. Dass die Horas dann immer wieder in den brutalsten Szenen "hammergeil" schreien, ist nur die Fortsetzung davon.

Ruhe des Grauens

Die Horas sind wie immer viel zu gut drauf, um im Publikum paternalistische Gefühle zu wecken. Die haben Spaß. Und Erfahrung, auch im Umgang mit Nicht-Behinderten. Letztere haben sicher weniger Erfahrung im Spiel mit Behinderten. Dagna Litzenberger Vinet, Matthias Neukirch, Michael Neuenschwander und Robert Hunger-Bühler spielen mitunter etwas übervorsichtig, aber auch das zeigt sie in anderem Licht als üblich, man möchte sagen: marottenfreier. Vielleicht ist das Unterspielte aber auch Programm. Der sanfte, ruhige Ton betont die unheimliche Kontinuität zwischen der Kultur und den Gräueln der Lager, zwischen Zivilisation und Barbarei. Diese Ruhe des Grauens prägt manchmal auch Pasolinis Film.
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