Milchboom in China

Von Udo Pollmer · 14.09.2013
Milch gilt als gesund - seit neuestem auch in China, wo 90 Prozent der Menschen Milchzucker nicht oder nur schlecht vertragen. Den Durst nach dem Kalziumlieferanten spüren auch Mütter hierzulande. Chinesische Bürger kaufen die Milch-Fertignahrung auf und schicken das Pulver in ihre Heimat.
China und Milch – das will nicht recht zusammenpassen. Wenn es eine Einsicht aus der traditionellen chinesischen Medizin gibt, die in Deutschland hoch im Kurs steht, dann doch das einfältige Sprüchlein: "Milch verschleimt". Dass die Milch in der chinesischen Gesundheitslehre keine tragende Rolle spielte, ist kein Wunder, bekanntlich vertragen die meisten Chinesen Milchzucker wesentlich schlechter als wir.

Europas Molkereien scheinen ganz neue Erfahrungen zu machen. Sie sprechen von einem Exportboom und schwärmen von einem nimmersatten Markt. Unsere Mütter von Kleinkindern bekommen das schmerzlich zu spüren: Chinesische Bürger in Deutschland kaufen die Regale mit der Milch-Fertignahrung leer und schicken das Pulver in ihre Heimat. Denn dort traut man dank Melamin-Skandal den eigenen Produkten nicht mehr – und inzwischen auch nicht mehr neuseeländischer Ware, denn die soll unlängst tödliche Keime enthalten haben. Auch wenn sich das im Nachhinein als Falschmeldung entpuppt hat, die Eltern von Kleinkindern sind da sehr sensibel.

Doch die Nachfrage nach Babymilch erklärt den Boom in China nicht. Auch nicht der Durst jener Völker, die seit jeher Milch schätzen, wie in Tibet oder der Mongolei. Dort sind Milch, Butter und Käse Grundnahrungsmittel. Auf den Hochebenen, in den Steppen erlaubt nur die Haltung von Yaks, Schafen oder Pferden das Überleben. Chinas Molkereien befinden sich nicht umsonst in den dünnbesiedelten nördlichen Provinzen. Nimmt man die Bevölkerung Chinas als Maßstab, dann vertragen nach chinesischen Angaben über 90 Prozent der Erwachsenen den Milchzucker schlecht oder gar nicht.

Irgendwie passt das alles nicht zusammen. Denn der Absatz brummt in den Zentren – dort wo die 90 Prozent wohnen. Suchen die etwa Verdauungsprobleme? Nein, Milch gilt heute in China als gesund – schließlich trinken das die wohlhabenden Europäer und US-Bürger. Also kaufen die Eltern ihren Gören Milch. Am liebsten gezuckert und mit starkem Kochgeschmack. Das gilt als optimales Kinderfrühstück. Die wichtigsten Unternehmen, die Milchdrinks vertickern, heißen Nestlé und Coca-Cola.

Selbst an Käse finden einige Chinesen Gefallen, auch wenn ein solches Produkt bisher als die ekelhafteste Speise galt, die man sich vorstellen konnte: Käse ist, wenn ein verdorbenes Kuhsekret auch noch verschimmelt. Die Gewöhnung erfolgte nicht über französische Rohmilch-Spezialitäten oder Harzer Roller, sondern über Pizza und Hamburger, also letztlich Käseimitate. Damit war das Interesse geweckt. Aber es kommt noch absurder: China importiert nicht etwa lactosearmen Hüttenkäse, sondern große Mengen an Milchzucker, denn der ist nahrhaft und billig.

Der Grund für diese Diskrepanz zwischen Ernährungslehre und Wirklichkeit ist einfach: Die meisten Menschen, die nach unseren Maßstäben Milchzucker nicht vertragen, vertragen dennoch etwas Milch. Egal ob als Milchshake, Kaffeesahne oder Dessert. Unsere Ärzte verwenden bei Tests so hohe Milchzuckermengen, dass die Zahl der Empfindlichen künstlich stark erhöht wird. Das ist etwa so, wie wenn man einem Arzt eine halbe Flasche Schnaps auf nüchternen Magen einflößt, um ihm dann bedeutungsschwanger zu erklären, er vertrage keinen Alkohol und müsse fürderhin auf Sekt verzichten.

Die Zahl der Personen, die Milchzucker überhaupt nicht verträgt, ist recht gering. Auch in Asien. Deshalb wird dort – trotz eines exorbitant hohen Preises – allerorten etwas Milch konsumiert. Allerdings hat das auch seine Grenzen: Eine chinesische Nachrichtenagentur berichtete von 250 Schülern, die nach dem Genuss von Milch auf leeren Magen allesamt im Spital landeten. Nicht weil Keime drin waren, sondern weil sie über den Durst getrunken hatten. Ich möchte nicht wissen, wie viel Leid gesundheitsbewusste Eltern ihren Kindern antun, indem sie ihnen "gesunde Milch" aufdrängen. So wie unsere Kids inzwischen seltsame Soja-"Milch" trinken müssen, weil Soja in China … lassen wir das.

Während in Deutschland die Milch mit Hinweis auf alte chinesische Weisheiten unter Druck gerät, schaut China nach Westen und will mehr Milch. Während sich hier die Lactoseintoleranz unter Ernährungsbewussten rasant ausbreitet und lactosefreie Milchprodukte boomen, floppte in China der Versuch der Molkereien Lactosefreies zu verkaufen. Die sind ja nicht doof, die Chinesen. Mahlzeit!

Literatur:

Hecking C: 3,50 pro Liter: Chinesen zahlen Höchstpreise für deutsche Milch. SpiegelOnline 16. Aug. 2013

Zinke O: China importiert immer mehr Milch. Agrarheute.com 8. Aug. 2013

Yang Y et al: The prevalence of lactase deficiency and lactose intolerance in Chinese children of different ages. Chinese Medical Journal 2000; 113: 1129-1132

Qiao R et al: Milk consumption and lactose intolerance in adults. Biomedical & Environmental Sciences 2011; 24: 512-517

Zhang L: Lactose intolerance: The irrelevance for the Chinese Dairy market. 5. International Whey Confernce, Paris 2008

Anon: For all the cheese in China. China Economic Review 4. März 2013

Chen H: Milk consumption and dairy industry in China. New Zealand China Friendship Society, Hibiscus Coast branch Meeting 29. July 2011

Chen N: China’s ‚Wine & Cheese Boom‘ Gains Strength. Jing Daily 29. Nov. 2012
Mehr zum Thema