Mikrokosmos einer Schülerclique

Von Elske Brault · 18.03.2010
Die Fachzeitschrift "Theater heute" kürte ihn zum Dramatiker des Jahres 2008, doch auf jeden Fall ist der Brite Simon Stephens der Dramatiker der Stunde. Er hat das Stück zum Thema "Amoklauf" geschrieben, und das wurde jetzt, ein Jahr nach dem Amoklauf von Winnenden, erstmals an einer deutschen Bühne aufgeführt. Und zwar am Hamburger Schauspielhaus: Das hat bereits mit "Pornographie", Stephens Kommentar zu den Terroranschlägen auf die Londoner U-Bahn, Erfolge gefeiert. Jetzt begibt es sich mit jungen Schauspielern ins Schülermilieu.
Sieben Noch-nicht-ganz-Erwachsene kurz vorm Schulabschluss treffen sich in einem ziemlich zugigen Aufenthaltsraum, nämlich vor einer großen grauen Freitreppe. Unsere modernen Schulen sind eben Funktionsbauten , und auch die Schüler sollen funktionieren. Sollen einen guten Abschluss machen, einen guten Ausbildungsplatz, einen guten Job ergattern. Lehrer oder Eltern kommen in diesem Stück nicht vor, und doch ist ständig der Druck spürbar, der von außen lastet auf jenen, die ihr letztes Jahr im Innenraum Schule verbringen. Bevor sie hinaus müssen in eine grausame Welt, die der hyperintelligente Chadwick im Stück so beschreibt:

"Wir sind seit ungefähr hunderttausend Jahren da, spätesten in zweihundert sind wir ausgestorben. Aus Religion wird nackte Gewalt, Kriminalitätsraten explodieren, alle werden süchtig nach Internet-Sex. Unser Bildungssystem kollabiert. Unser Gesundheitssystem wird unbezahlbar, unsere Polizei unkontrollierbar, unsere Regierung korrupt. Der Meeresspiegel steigt an. Städte werden versinken. Arten verschwinden für immer. Einschließlich unserer."

Solche Monologe sind Ausbrüche im Stück. Simon Stephens hat vor allem überlappende Dialoge geschrieben: Die Schüler reden nicht nur mit- sondern durcheinander, und das gibt dem Drama anfangs ordentlich Fahrt. Regisseur Daniel Wahl und seine Bühnenbildnerin Viva Schudt erhöhen die Geschwindigkeit noch durch Spiele rund um eine Tischtennisplatte, neben einem Fotokopierer und einigen weitgehend funktionslos von der Decke hängenden Kopfhörern die einzigen Dekoelemente auf der Bühne.

Für die Aktion sorgen die Schauspieler, eine gemischte Truppe aus verdienten Ensemblemitgliedern und Nachwuchsdarstellern des "Jungen Schauspielhaus", die sonst vor allem vor Schulklassen spielen.

Flegel Bennett mobbt den hyperintelligenten Hornbrillenträger Chadwick. Seine Freundin Cissy, magersüchtige Einser-Schülerin, macht mit. Schulschönheit Lily und Sportas Nicholas schauen zu. Einzig die dicke Tanja und der einsame, etwas verdrehte William versuchen einzuschreiten, weil sie als nächste auf Bennetts Abschussliste stehen. Diese Typen streifen das Klischee, sind aber auch ziemlich realistisch: Was sich im Mikrokosmos der Schülerclique abspielt, ist ein getreues Abbild der Ellenbogengesellschaft.

Der tödliche Ausgang wirkt beim Lesen des Stücks etwas aufgesetzt. Auf der Bühne hingegen gestaltet Sören Wunderlich als William den Übergang von harmlosen Allmachtsfantasien zu real-blutigem Amoklauf so nahtlos, als hätte es gar nicht anders kommen können. Regisseur Daniel Wahl hat mit sehr natürlich wirkenden Schauspielern gut gearbeitet und so sehr realistisch einen Schulalltag inszeniert, der den meisten im Publikum bekannt vorkommt.

Aber das ist auch der Schwachpunkt seiner Inszenierung: In Simon Stephens Stück steckt mehr, nämlich eine Kritik an unser aller täglichem Kampf in der Formung unserer Persönlichkeit, die sich aufreibt zwischen Selbstbehauptungsnotwendigkeit und Selbstverwirklichungswahn. "PunkRock" ist ein feines kleines Drama, droht aber hier zur Pflichtveranstaltung für Schulklassen zu werden.


"Punk Rock" am Hamburger Schauspielhaus