Migrationsforscher über Zustrom von Muslimen

Kein Ende der offenen Gesellschaft

Werner Schiffauer, Vorsitzender des Rats für Migration, äußert sich am 05.01.2015 bei einer Pressekonferenz in Berlin
Werner Schiffauer, Vorsitzender des Rats für Migration © picture-alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka
Werner Schiffauer im Gespräch mit Nana Brink · 10.11.2015
Die meisten der derzeit ankommenden Flüchtlinge sind Muslime. Viele Bürger sind unsicher: Wie mit deren vermeintlich fremdem Verhalten umgehen? Ist unsere offene Gesellschaft gefährdet? Kulturwissenschaftler Werner Schiffauer rät zu konsequenter Partizipation.
Angesichts der zahlreich nach Deutschland kommenden Flüchtlinge, von denen ein Großteil Muslime sind, ist eine Diskussion neu entbrannt: Müssen wir uns Sorgen um unsere offene Gesellschaft machen? Wie können wir mit - vielfach religiös motivierten - Verhaltensweisen umgehen, die viele von uns als fremd, einschränkend oder gar unfreundlich empfinden?
Werner Schiffauer, deutscher Kulturwissenschaftler, Buchautor und Professor für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, warnt vor Panikmache. Eine Abschottung von Muslimen in Deutschland sei für ihn nicht erkennbar: "Wir haben festgestellt, dass auch die Muslime, die sich religiös engagieren sich religiös aufstellen, dies mit der Absicht machen, in die Gesellschaft hinein zu kommen. Das heißt, sie machen eine Identitätspolitik, die es ihnen erlaubt, nicht sich auszuklinken, sondern hineinzukommen und sich in der Gesellschaft einzubringen."
Klischeevorstellungen, die nicht zutreffen
Erfahrungen aus seinem eigenen Berliner Projekt, dem Eltern-Treff "Brücken im Kiez", zeigten: Muslimische Mütter, die gegenüber Fremden ein vermeintlich abweisendes Verhalten zeigten, seien besonders engagiert, wenn es darum gehe, mit anderen Eltern über demokratische Rechte oder die Rechte der Frauen im Alltag zu diskutieren und sich Gedanken um die Zukunft ihrer Kinder zu machen, sagte Schiffauer, der Vorstandsvorsitzender im Rat für Migration ist.
"Wofür ich bin - und was die beste Basis für eine Integration ist –, ist Partizipation. Einfach mit den Neuankömmlingen etwas zusammen entwickeln, zusammen aufbauen. Versuchen, Schritte zu gehen, wo man die tatsächlichen Unterschiede bewältigen kann." Statt dessen würden oft vor allem die Unterschiede betont, die aber eigentlich gar nicht so groß seien.
Dann würden sich beispielsweise auch vermeintliche Probleme lösen lassen wie etwa das Thema "Sexualkundeunterricht" in der Schule. Viele muslimische Eltern hätten grundsätzlich gar nichts dagegen einzuwenden, dass ihre Kinder Aufklärungsunterricht erhielten. Sie hätten nur ein Problem damit, dass dieser Unterricht geschlechtergemischt stattfinden solle.


Das Interview im Wortlaut:
Nana Brink: Da ist sie wieder, die Diskussion um die Leitkultur, dieses Wort aus den vergangenen Jahren. Übrigens hat das viele amerikanische Intellektuelle schwer beeindruckt dieses Wort, denn das deutsche Wort ist ein beliebter Begriff in den Feuilletons von "New York Times" und "Washington Post", also die Leitkultur. Seitdem es klar ist, dass ein paar Millionen Menschen zu uns kommen werden aus anderen Kulturkreisen, haben ja viele Menschen Sorgen, dass sich unsere Gesellschaft verändert, und genau darüber debattieren wir hier in "Studio 9" schon seit ein paar Tagen. Heute wollen wir es tun mit dem Kulturwissenschaftler und Ethnologen Werner Schiffauer, er lehrt an der Europa-Universität in Frankfurt (Oder) und ist Vorstandsvorsitzender des Rates für Migration, und er berät schon seit 1998 die Politik in eben diesen Fragen. Guten Morgen, Herr Schiffauer!
Werner Schiffauer: Guten Morgen!
Brink: Sie haben über türkische Islamisten in Deutschland geschrieben, über Milli Görüs, das ist die größte islamistische Gemeinde in Deutschland, Sie haben untersucht, wie sich die Einwanderer in der ersten, zweiten und auch dritten Generation hier etabliert haben oder auch nicht – müssen wir uns Sorgen machen um unsere offene Gesellschaft?
Schiffauer: Ich glaube, nein. Diese Sorge um die offene Gesellschaft wurde an die Wand gemalt seit es die Arbeitsmigration aus muslimischen Ländern gibt. Bisher ist davon nichts eingetreten. Im Gegenteil, wir haben festgestellt, dass sich auch die Muslime, die sich religiös engagieren und religiös aufstellen, dies mit der Absicht machen, in die Gesellschaft hineinzukommen, das heißt, sie machen eine Identitätspolitik, die es ihnen erlaubt, nicht sich auszuklinken, sondern gerade hineinzukommen und sich in der Gesellschaft einzubringen.
Gehen wir klug mit dem Thema Migration um?
Brink: Nun gibt es aber Szenen, wie sie ja oft passieren in diesen Tagen, also Polizisten berichten, die Ehrenamtlichen in Unterkünften oder Bahnbeamte, gestern Abend im Fernsehen war es auch zu sehen, ein muslimischer Flüchtling gibt einer Frau nicht die Hand, verschleierte Frauen verweigern das Gespräch mit einem Mann – das entspricht ja nicht unseren Vorstellungen. Müssen wir das aushalten?
Schiffauer: Naja, der Punkt ist für mich, wie gehen wir klug damit um, und klug gehen wir damit um, wenn wir nicht dann im Gegenteil wieder einen Aufklärungsfundamentalismus einschlagen und sagen, jetzt wird aber die Hand gegeben, sonst raus, sondern wenn wir das sehen als das, was es ist, nämlich eine religiös motivierte Verhaltensweise, die tatsächlich einen Unterschied markiert, aber wir sollten uns abgewöhnen, von den Unterschieden auszugehen, sondern vielmehr mal zu sehen, wo sind denn Gemeinsamkeiten. Und wenn wir die Gemeinsamkeiten anschauen, dann machen diese faktischen Unterschiede, wo wir tatsächlich Schwierigkeiten haben, vielleicht fünf Prozent aus. Wenn wir diese Haltung einnehmen, dann werden sie händelbar und man kann damit umgehen. Wenn man dagegen die Unterschiede als Ausgangspunkt nimmt, dann erscheint uns das Ganze als eine Riesenkluft zwischen Neuankömmlingen und Einheimischen, und das macht es nur schwierig.
Brink: Aber sind das tatsächlich nur fünf Prozent, also jemand, der einem nicht die Hand gibt. Ich will gar nicht vom Kopftuch reden, das ist vielleicht noch ein anderer Ausdruck einer religiösen Überzeugung, die sind doch sehr tief und weitgehend und klaffen sehr auseinander mit unseren Vorstellungen. Müssen wir das akzeptieren oder nicht doch mit ein bisschen Vorwand ...?
Schiffauer: Ich habe in den letzten sechs Jahren ein Gesprächskreis gehabt mit konservativen muslimischen Eltern, Vertretern von Moscheegemeinden und Vertretern von Schulen hier in Kreuzberg, und da waren viele der Frauen dabei, die die Hand nicht gegeben haben. Auf der anderen Seite waren sie die Frauen, die dann die Diskussion getragen haben, die sehr deutlich auch für demokratische Rechte eingetreten sind, die sich Gedanken um die Zukunft ihrer Kinder gemacht haben, und all das bringt mich einfach zu dieser Aussage, was ist dann diese Geste des Nichthandgebens noch. Sie steht nicht für eine grundsätzlich andere Grundhaltung etwa in Bezug auf die Zukunft der Kinder oder auch auf die Rechte der Frauen.
Brink: Aber wo muss man die Grenze ziehen oder muss man eine Grenze ziehen?
Schiffauer: Ich tue mich immer schwer mit Grenzen ziehen, denn Grenzen zieht die eine Seite, also die Seite der Mehrheitsgesellschaft, und das geht dann leicht damit daher, dass man Bekenntnisse verlangt, eine Art Gesslerhut aufstellt, sozusagen Hinweise abtastet in anderen, und das produziert in der Regel genau das Gegenteil von dem, was es will. Wofür ich bin und was die beste Basis für eine Integration ist, ist Partizipation. Einfach mit den Neuankömmlingen zusammen etwas entwickeln, zusammen aufbauen, versuchen, Schritte zu gehen, wo man die tatsächlichen Unterschiede bewältigen kann pragmatisch, und dann wird sich das von selbst ergeben. Dann wird Schritt für Schritt eine Ebene von Vertrauen einziehen und eine Lockerung.
Brink: Wo kann man das am besten machen, wo sehen Sie da den Ort, das zu tun? Aus den Erfahrungen würde ich gerne ein bisschen mehr hören, aus Ihrem Gesprächskreis.
Schiffauer: Der klassische Ort ist natürlich die Schule, wo Vertreter, Kinder der Mehrheitsgesellschaft, Kinder der Neuzukömmlinge zusammenkommen und sich intensiv auseinandersetzen, und in dieser Schule gibt es gut Chancen. Hier haben wir in unserem Gesprächskreis gerade die Dynamik von Zuschreibungen erlebt: Der Gesprächskreis wurde immer dann schwierig, wenn die Muslime konstruiert wurden und nicht mehr die einzelnen Personen gesehen wurden, wenn sozusagen einzelne Verhaltensweisen herausgegriffen und verabsolutiert wurden. Es lief immer gut, wenn wir an der Sache diskutiert haben und uns überlegt haben, wie wir uns in konkreten Fällen aufstellen und wie wir da zusammenwirken können.
Streitpunkt: Sexualkundeunterricht
Brink: Aber können Sie mir mal so einen konkreten Fall nennen, wo dann vielleicht auch die Unterschiede stehengeblieben sind oder wie Sie da verfahren sind?
Schiffauer: Ein konkreter Fall, wo die Unterschiede stehengeblieben sind, war Erziehung zur Sexualität, das ist eigentlich der einzige Bereich, wo wir das Gefühl hatten, da gibt es massive Unterschiede. Die deutschen Eltern hatten das Gefühl, und die Lehrer, die Kinder sollen Sexualität ruhig ausprobieren, das gehört zu einem gesunden Heranwachsen dazu, die muslimischen Eltern hatten das Gefühl, das muss nicht unbedingt sein, sie werden ihre Sexualität dann erleben, wenn sie verheiratet sind, in der Ehe sind. Das war der zentrale Unterschied. Andere Sachen, wo es um Demokratie, um Rechtstaatlichkeit, um Bekenntnisse zum Grundgesetz ging, spielten dagegen keine Rolle.
Brink: Aber ich möchte trotzdem an diesem Beispiel bleiben, weil das ja sehr interessant ist. Es steht zum Beispiel in den Lehrplänen der vierten Klassen ja drin, die Sexualaufklärung –
Schiffauer: Genau.
Brink: – das wissen Sie besser als ich. Was machen wir denn dann?
Schiffauer: Wir könnten zum Beispiel eine Zeit lang die Kinder auseinanderhalten nach Geschlechtern. Die muslimischen Eltern haben gar nichts gegen Sexualaufklärung. Sie haben etwas gegen koedukative Sexualaufklärung, und tatsächlich, wenn ich die Geschichten meiner Tochter höre, tendiert koedukative Sexualaufklärung eher zu einer Giggel- und Kicherkultur in der Klasse, die auch von den Lehrern oft nicht besonders geschätzt wird.
Brink: Sie meinen Jungen und Mädchen trennen.
Schiffauer: Ja. Bei vielen Sachen, etwa bei Schwimmunterricht haben muslimische Eltern überhaupt keinen Einwand dagegen, dass Mädchen schwimmen lernen. Die Frage ist, muss das auch zusammen mit Jungen passieren, und das gilt auch für den Sexualkundeunterricht.
Brink: Ganz kurze Frage zum Schluss, um mit der Kanzlerin zu sprechen: Schaffen wir das?
Schiffauer: Ich würde sagen, wir können es schaffen, und wir haben eine realistische Chance, es zu schaffen, wenn die Politik das nicht kaputt macht.
Brink: Der Kulturwissenschaftler und Ethnologe Werner Schiffauer von der Europa-Universität in Frankfurt (Oder). Herr Schiffauer, vielen Dank für Ihre Einschätzungen!
Schiffauer: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Werner Schiffauer u.a.: Schule, Moschee, Elternhaus - eine ethnologische Intervention"
Suhrkamp Verlag, 2015, 298 Seiten, 18 Euro.

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