Migration

Immer der Reihe nach!

Von Udo Schmidt · 11.11.2013
Quer durch die Bevölkerung Australiens geht der Streit über den Umgang mit den Flüchtlingen, die dort zu Tausenden eine neue Heimat suchen. Nicht einmal die ehemaligen Bootsflüchtlinge aus Vietnam, die in Australien Fuß gefasst haben, solidarisieren sich uneingeschränkt mit den Neuen.
Cabramatta im Südwesten von Sydney, der Multikulti-Stadtteil der australischen Metropole - gerne auch Little Saigon genannt, nach den vielen vietnamesischen Boatpeople, die ab Ende der Siebziger Jahre in Australien ankamen und von denen manche noch immer hier in Cabramatta leben. Doch Cabramatta ist mehr als ein kleines Exil-Vietnam. Hier leben Menschen aus vielen Regionen der Welt, und hierher kommen viele Einwohner Sydneys, denen die eigene Welt für einen Moment zu klein und zu eng geworden ist, und die ein wenig fremdes Flair suchen, weiß Rose, die mit ihrem Bruder das Backwaren-Geschäft One Cake betreibt und eigentlich Tu Fi heißt. Vor über 30 Jahren kam sie aus Vietnam - als Bootsflüchtling:

"Ich liebe Cabramatta, wir sind alle sehr freundlich hier, und es kommen viele aus dem Norden Sydneys wegen des leckeren asiatischen Essens, alle mögen es hier."

Auf einer Bank in der Sonne sitzt Danny aus Battambang in Kambodscha, seit 20 Jahren ist er in Australien, auch er kam als Flüchtling, aber von den vielen neuen Boatpeople, gegen die die konservative Regierung unter Tony Abbott nun radikal vorgehen will, hält er nicht viel. Zumindest glaubt er, dass die Abschreckung wirkt:

"Wahrscheinlich gibt es bald keine Bootsflüchtlinge mehr. Es ist auch alles sehr kompliziert. Man muss so vieles regeln. Man bekommt Kopfschmerzen davon. Ich glaube, ab jetzt kommen keine Bootsflüchtlinge mehr."

Danny aus Kambodscha hat keine regelmäßige Arbeit. Er schlägt sich so durch, erklärt er lachend, vielleicht lehnt er deshalb neue Flüchtlinge ab. Sie stellen neue Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt dar.

David aus Myanmar betreibt einen eigenen Kiosk, in Mount Druitt, einem westlichen Vorort Sydneys, der auch bunt, aber nicht so lustig ist wie Cabramatta. Hier wird schon vormittags getrunken, hier haben mehr Menschen mehr Zeit, als sie vernünftig verbringen können, hier ist Australien auch dreckig. David geht es gut, man sieht ihm seine asiatischen Wurzeln an und er ist stolz darauf, aber auch er ist gegen die neuen Flüchtlinge:

"Das Land kann nicht alle Flüchtlinge, die ins Land kommen, unterstützen. Sie müssen untergebracht werden, brauchen Essen, das kostet doch Millionen. Am Ende haben wir nicht genug Geld, um uns um alle zu kümmern."

Widerstände in der Weltbürger-Stadt
Woran liegt das? Warum ist dieses Australien, das doch ohne Einwanderer gar nicht existieren würde, so gegen diese Flüchtlinge, die ihr Leben riskieren, in kaum seetüchtigen Booten? Julian Burnside ist einer der bekanntesten Menschenrechtsanwälte Australiens. Er lebt in Melbourne, in der Weltbürgerstadt Down Under, in einem frisch restaurierten viktorianischen Gründerzeithaus. Australier mögen keine queue-jumper, keine Vordrängler, sagt er, auch wenn der Begriff Vordrängeln völlig falsch sei:

"Die Idee einer Schlange, einer Reihe, in der man sich anstellt, ist lächerlich. Wenn Menschen um ihr Leben fürchten und fliehen, dann werden sie sich nicht um eine Anerkennung bewerben können. Die meisten Bootsflüchtlinge der vergangenen 15 Jahre sind vor den Taliban in Afghanistan geflohen. Wie hätten die sich bei der Botschaft in Kabul um Anerkennung bewerben und brav anstellen sollen, wenn sogar die Adresse der Botschaft aus Sicherheitsgründen geheim ist?"

Burnside gibt vor allem der australischen Politik die Schuld. Seit Jahren habe sie Asylsuchende zur Zielscheibe gemacht, um von anderen Problemen abzulenken:

"Sie haben die Asylsuchenden über Jahrzehnte dämonisiert, sie nennen sie 'Illegale' oder 'Vordrängler', was falsch ist. Besonders die Konservativen haben dazu beigetragen, dass die Menschen die Bootsflüchtlinge ablehnen und hassen."

Grundsätzlich, meint Paul Power, der den Refugee Council of Australia leitet, sind die Australier aber offen für Neuankömmlinge jeder Art:

"Es ist nicht typische Fremdenfeindlichkeit, die da vorliegt, denn es gibt eine große Akzeptanz der Ansiedlung von Flüchtlingen in Australien. Das geht auch auf die alten britischen Wurzeln zurück. Aber die Menschen wollen, dass es ordentlich abläuft. Und die Bootsflüchtlinge nehmen eben nicht ihren Platz in der Reihe ein, sie drängeln vor."

Powers nutzt den Begriff Vordrängler, ohne ihn grundsätzlich in Frage zu stellen. Das australische System, das im Kern bedeutet, dass Flüchtlinge einen Asylantrag in der australischen Botschaft ihres Heimatlandes stellen, stellt der Flüchtlingsbeauftragte nicht in Frage. Und damit auch nicht das Prinzip, sich in der Reihe hinten anzustellen.

Flüchtlingen helfen? - Selbstverständlich!
Tom ist 21, ist in Australien geboren, aber seine Eltern sind aus Vietnam. Er arbeitet in einem Restaurant in Ambush, einem Vorort Sydneys nahe Cabramatta, und er ist sehr zufrieden damit. Tom ist ein fast prototypischer australischer Surferboy - mit asiatischen Wurzeln eben. Und er hält es für selbstverständlich, Flüchtlingen zu helfen. Gerade Australien müsse das tun:

"Ich glaube, dass alle Menschen ihre Probleme haben, dass sie leiden. Die Menschen haben gute Gründe, ihr Leben zu riskieren und mit dem Boot nach Australien zu kommen."

Menschenrechtsanwalt Julian Burnside ist ein kritischer, ein sehr kritischer Begleiter der australischen Politik, aber gleichzeitig auch ein begeisterter Australier. Viele hier, sagt er, haben schon die richtigen Vorstellungen von Menschenrechten, aber sie meinen vor allem sich selber und ihre direkten Nachbarn, wenn es um die Nutznießer von Menschenrechten geht. Es brauche in Australien eben immer eine Zeit, bis man den Wert einer neuen Kultur, die das Land bereichert, erkenne:

"Als ich in den 50er-Jahren in Melbourne aufwuchs, da kamen ganz viele Italiener und Griechen nach Australien und meine Eltern waren sehr besorgt. Die brachten komischen Kaffee mit und das Schlimmste: Sie aßen Tintenfisch. Das war einfach schrecklich. Inzwischen kann sich keiner mehr vorstellen, dass wir diese Bereicherungen nicht hätten. Griechen und Italiener haben unsere Kultur positiv verändert."

Die Bootsflüchtlinge der ersten Generation kamen alle aus Vietnam. Damals, Ende der 70er-Jahre, flüchteten sie vor dem kommunistischen Regime, das die früheren Anhänger Südvietnams internierte.

Der große Unterschied zwischen den Flüchtlingen
Ambrose Dinh etwa ist jetzt Anfang 70, er lebt in angenehmem Wohlstand in Condell Park am Rande Sydneys. Während des Vietnamkrieges war er als Hubschrauberpilot für Südvietnam in der Luft. Entsprechend schlecht waren seine Zukunftsaussichten im Vietnam Ho Tchi Mins nach dem Ende des Krieges. Ambrose floh im Boot und erreichte schließlich Australien. Hier lebte bereits sein Bruder. Und Ambrose wurde mit offenen Armen empfangen:

"Ich war der einzige in unserer Flüchtlingsgruppe, der Englisch sprechen konnte. Wir haben zuerst in einer Unterkunft des Einwanderungsbüros gelebt. Ich habe viel übersetzt und geholfen, dass beide Seiten miteinander klar kamen."

Ambrose war nie wieder als Pilot in der Luft, aus ihm wurde ein angesehener Angestellter der Steuerverwaltung. Die heutigen Boatpeople, sagt Ambrose Dinh, hätten mit ihm, mit den vietnamesischen Bootsflüchtlingen damals nicht viel gemein:

"Die jetzigen Bootsflüchtlinge sind vorbereitet aus ihren Ländern geflohen, wir hatten damals überhaupt keine Zeit für Vorbereitungen. Heute haben die Flüchtlinge Geld bei sich und viele Dinge. Die Regierung stuft viele der Boatpeople ja auch als wirtschaftliche und nicht als politische Flüchtlinge ein, das ist der große Unterschied."

Und auch Ambrose, der vietnamesische Flüchtling, der noch sehr viel mit der vietnamesischen Gemeinschaft in Australien, aber wenig mit anderen Bootsflüchtlingen zu tun hat, spricht von queue jumping, von Vordrängeln:

"Ein weiterer Unterschied ist, dass sich die Bootsflüchtlinge die Flucht erkauft haben. Und die Menschenschmuggler damit einen Haufen Geld. Für die australische Regierung ist das queue-jumping, Vordrängeln. Normalerweise bleibt man in einem Flüchtlingslager außerhalb Australiens und stellt von dort den Asylantrag. Das ist der normale Ablauf."

Tienh Man kommt ebenfalls aus Saigon, er floh etwa zur gleichen Zeit wie Ambrose Dinh. In Südvietnam war Tienh Man Truppenarzt:

"Ich wurde gefangen genommen, zwei Tage bevor Saigon fiel. Ich kam in ein Konzentrationslager, dort gab es nur harte Arbeit. Auch wenn es Bildungseinrichtung genannt wurde - es gab keine Bildung."

Dem damals 24-jährigen Tienh gelingt schließlich die Flucht, auch er sitzt am Ende in einem schwankenden Boot erst nach Malaysia, von dort später nach Australien.

Etwas zurückzahlen
In Sydney arbeitet Tienh Man seit langem ebenfalls als Arzt, als Allgemeinmediziner, sein großes Haus verdeutlicht, dass es ihm und seiner Familie gut geht. Er habe so viel Glück gehabt, sagt Tienh Man, das sei eigentlich zu viel gewesen, er müsse einfach davon etwas zurückzahlen:

"Meine Arbeit als Arzt für die vietnamesische Gemeinschaft hier war immer kostenlos. In den 80ern habe ich mich mit um die 500.000 vietnamesischen Flüchtlinge gekümmert, die in Lagern in ganz Südostasien lebten. Wir haben Geld gesammelt und den Landsleuten vieles geschickt, das ihr Leben ein bisschen einfacher machte."

Damals, sagt der gutsituierte Arzt, sei die Situation ganz anders gewesen als heute. Die westliche Welt hatte Südvietnam aufgegeben, fallen gelassen und daher hatten alle ein schlechtes Gewissen. Deshalb wurden die vietnamesischen Bootsflüchtlinge so gut behandelt. Außerdem ging es der australischen Wirtschaft viel besser als heute. Arbeitskräfte wurden händeringend gesucht, er selber, sagt Tienh Man, habe innerhalb von zwei Wochen einen guten Job gehabt:

"Das ist jetzt ganz anders. Jetzt ist es eher erschreckend. Die Wirtschaft stagniert. Der Wettbewerb ist riesig. Die Menschen haben Angst und sind weniger großzügig."

Aber auch die Flüchtlinge jetzt seien ganz anders, hier ist sich Tienh Man mit Ambrose Dinh völlig einig, sie seien viel zu anspruchsvoll:

"Wir sind damals gerne in jedes freie Land gegangen, nach Thailand oder Malaysia, wir waren dankbar für alles, für ganz einfaches Essen, alles war ein Gottesgeschenk. Die heutigen sogenannten Asylsuchenden wollen zu viel, sie fordern zu viel, sie brennen ihre Unterkünfte nieder. Und das verstärkt die Ablehnung und Angst der Australier."

Nicht viel Verständnis also von den alten erfahrenen Bootsflüchtlingen für die neuen Flüchtlinge, die die konservative Regierung unter Tony Abbott einfach zurückschicken möchte und die kaum noch eine Lobby haben in Australien.

Farad ist vor vier Jahren aus dem Iran geflüchtet, den ganzen langen klassischen Weg über Thailand, Malaysia, Indonesien, dann mit dem Boot, einem kaum seetüchtigen Kahn, Richtung Australien. Farad hat es geschafft, er sitzt in einem Flüchtlingszentrum am Rande Sydneys - hier werden ihm Englisch-Kenntnisse vermittelt - und erinnert sich an Stationen seiner Flucht:

"Ich habe zwei Monate in Indonesien gelebt, einen Monat davon in einem Internierungslager. Dort gab es für Geld alles von der Polizei: Alkohol, Drogen, Frauen. Ich habe meine ganz eigenen Erfahrungen gemacht in diesem Lager in Indonesien."

Stigma für die Boatpeople
Dann schließlich kauft sich Farad frei und auf dem Kahn nach Australien ein. Er wird zu einem der Boatpeople, die die australische Politik so fürchtet.

"Ich bin glücklich, jetzt hier in Australien zu sein. Aber ich kann es mir nicht verzeihen, dass ich mit einem Boot gekommen bin. Denn die Australier schauen auf uns Boatpeople herab, als wenn wir Diebe wären."

Wovor hat Australien eigentlich Angst, fragt David Marr, Buchautor und bekannter Kritiker der australischen Flüchtlingspolitik:

"In letzter Zeit sind mehr Flüchtlinge mit dem Boot gekommen als jemals zuvor. Aber insgesamt gesehen, in den ganzen 35 Jahren, in denen überhaupt Asylsuchende per Boot flüchten, sind es gerade einmal 44.000 sogenannte Boatpeople, in dieser Zeit hat Australien dreieinhalb Millionen Einwanderer integriert. Die Zahl der Flüchtlinge, um die es geht, ist winzig, aber die Abschreckungspolitik ist brutal."

Nesrin ist auch aus dem Iran geflüchtet, auch über Indonesien, auch mit dem Boot. Sie hat das nicht getan, weil sie sich vordrängeln wollte, sondern weil sie keinen anderen Weg wusste:

"Wir haben viel Geld bezahlt, etwa 8.000 Dollar. Auf dem Boot gab es einen Haufen Probleme. Wir waren neun Tage unterwegs, es war furchtbar dreckig. Es gab nicht genug zu essen und zu trinken. Wir wären fast gestorben. Nach neun Tagen hat uns die australische Küstenwache gerettet und wir waren glücklich und aufgeregt, an einem sicheren Ort anzukommen."

Nesrin ist inzwischen anerkannt in Australien, sie hat ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht und fühlt sich in ihrer neuen Heimat wohl. Eigentlich nämlich, sagt Stephen Castles von der Universität Sydney, der viele Jahre in Frankfurt gelehrt hat, ist Australien ein liberales Einwanderungsland, das mit Neuankömmlingen gut umgeht:

"Also, ich glaube nicht, dass man in Australien von einem starken Rassismus sprechen kann, weil die Leute hier sehr gut mit Anderssein umgehen, aber das klappt in der Praxis besser als in der Theorie."

Viel für das Land getan
Zurück zur Praxis: Jeff lebt in Rooty Hill. Rooty Hill ist nicht weit vom etwas schäbigen Mount Druitt am Rande Sydneys entfernt, aber doch deutlich ansehnlicher. Jeff ist pensionierter Verwaltungsbeamter der Stadt, der von Politik nichts verstehe, meint er - um dann viele schlaue Sachen zu sagen:

"Ich weiß, dass die Bootsflüchtlinge ein großes Problem darstellen, aber ich weiß ansonsten nicht viel über sie. Aber meine Meinung ist, dass man vor allem dafür sorgen muss, dass die Situation in deren Herkunftsländern besser wird, damit sie dort bleiben können."

Über die neuen, kommenden Landsleute, die dann doch mit den Booten die Küsten erreichen, hat Jeff auch Gutes zu sagen:

"Die Flüchtlinge haben so viele verschiedene Dinge nach Australien gebracht, früher haben wir doch nur Fleisch und etwas Gemüse gegessen, mehr kannten wir nicht. Gerade hier in Rooty Hill gibt es jetzt Läden und Restaurants aus Indien, aus ganz Asien, von den Fijis. Sie haben doch viel für unser Land getan und uns bereichert."

Die, die die gefragten asiatischen Restaurants oder Bäckereien betreiben, sind nicht unbedingt ganz so liberal. Rose, die Vietnamesin, die seit fast zwanzig Jahren in Cabramatta mit ihrem Bruder leckere asiatische Süßigkeiten verkauft, sieht es so:

"Wenn die Neuen in Australien leben wollen, dann dürfen sie hier nichts Falsches tun. Wenn sie hierherkommen mit reinem Herzen, dann ist es gut. Aber wenn sie herkommen und beispielsweise nicht arbeiten und nichts für das Land tun wollen, dann sollen sie nicht kommen."

Julian Burnside, der engagierte Menschenrechtsanwalt, will etwas ganz anderes erreichen. Er möchte, dass die Flüchtlinge für Australien arbeiten müssen - und dies auch sicher gerne tun - und zwar dort, wo Menschen und Arbeitskräfte benötigt werden. In Tasmanien etwa, in Bundesstaaten und Regionen, in denen die Bevölkerung schrumpft:

"Australien steht vor demographischen Herausforderungen. Die kleinen Orte auf dem Land verlieren Einwohner, ihre Wirtschaft leidet. Wenn wir die Bootsflüchtlinge während der Wartezeit dorthin senden, dann kann das ein großer Gewinn für alle sein."
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